Siegen. Die Siegtalbrücke muss wie alle Brücken der A 45 abgerissen und neu gebaut werden. Kann und will man darunter weiter wohnen? Ein Besuch.

Vor dem Fenster steht übergroß der Pfeiler der Brücke, keine 50 Meter weit weg. Hermann Melles sitzt am Küchentisch, neben ihm seine Frau Anneliese, auf der Fensterbank die Fotos der Enkel, vor ihm ein grünes Mäppchen mit ein paar gesammelten Zeitungsartikeln der vergangenen Jahre. Thema: Siegtalbrücke. Das Bauwerk, unter dem das Ehepaar wohnt. Annelieses Elternhaus, ihr gemeinsames Zuhause seit 30 Jahren.

„Manche Leute sagen: Stellt euch nicht so an, ihr kriegt doch Geld“, sagt Hermann Melles: „Aber dass es einen innerlich zerreißt, scheint keinen zu interessieren.“

Siegtalbrücke: Höchste und längste A-45-Brücke

Die Siegtalbrücke ist etwas Besonderes. Zum einen, weil sie mit 100 Metern zu den zehn höchsten Talbrücken in ganz Deutschland zählt. Zum anderen weil sie entlang der Autobahn 45 zwischen Hessen und Dortmund nicht nur mit 1000 Metern die längste ist, sondern auch die einzige, unter der so viele Menschen wohnen. Menschen, die damit lebten, dass Eisplatten oder Selbstmörder in ihren Straßen landeten. Menschen, die die Nähe zur Innenstadt und in den Wald schätzen. Menschen, die nun einer noch ungewissen Zukunft entgegenblicken, weil über ihren Köpfen bald eine Autobahn abgerissen und neu gebaut wird: Die Siegtalbrücke über dem Stadtteil Eiserfeld muss wie alle Brücken der Sauerlandlinie komplett erneuert werden.

Eine der Varianten der neuen Brücke: eine Schrägseilbrücke mit Stahlverbundhohlkasten,
Eine der Varianten der neuen Brücke: eine Schrägseilbrücke mit Stahlverbundhohlkasten, © Straßen NRW | Dissing+Weitling architecture / IG Siegtalbrücke

Das Haus der Melles ist von 1895. Sie haben es renoviert, saniert, nur die Außenmauern waren stehengeblieben, damit sie alles fertig haben, wenn sie in Rente sind. 73 werden sie dieses Jahr. Um den Garten kümmert sich Hermann Melles immer gern, Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume stehen da, vom Verkehr auf der Brücke hört man weniger als man denkt. So würden sie es aushalten, dachten sie sich für ihren Lebensabend.

Nun hat nicht nur ihr Haus auf allen offiziellen Karten eine rote Markierung. Die heißt? „Dass wir hier wech müssen“, sagt Herr Melles und verzieht das Gesicht.

Neubau: Die Brücke wandert 20 Meter Richtung Siegen

Nach derzeitigem Stand der Planung wird die neue Brücke – auch wegen der Erweiterung auf sechs Fahrspuren – 20 Meter seitlich versetzt stehen, weiter Richtung Siegen. Das Haus der Melles ist eines von sechs, das dabei besonders im Wege steht. Die Planungen bei der Autobahn GmbH Westfalen laufen aber noch, mit den Bauarbeiten kann frühestens 2028 begonnen werden. Bauzeit? Sieben Jahre bestimmt, so genau weiß man das aber noch nicht, da Abriss und Neubau noch nicht final durchdacht sind.

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Die beiden Kinder der Melles sind in dem Haus groß geworden. Mittlerweile leben sie mit ihren eigenen Kindern in Siegen. „Viele Erinnerungen hängen an dem Haus“, sagt Anneliese Melles und senkt den Blick. „Egal wohin wir gehen: Wir sind dann überall fremd.“ Wenn es dazu kommt, dass die Autobahn GmbH ihr Grundstück braucht, dann würden sie auch entschädigt. Aber reicht das?

„So emotional darf man nicht sein“

Hermann Melles hat schon schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht, Vertrauen hat er wenig. „Dann kriegen wir den Verkehrswert und fertig.“ Zu wenig, meint er, um sich etwas zu leisten, das dem Ort entspricht, den sie sich bisher erschaffen haben. Die beiden sind fassungslos und fürchten: „Wir müssen das einfach hinnehmen.“

Bürger-Initiative: Vorsitzender Mark Rothenpieler (links) und Initiator Günter Messerschmidt wollen bei den Planungen für den Abriss und den Neubau ein Mitspracherecht.
Bürger-Initiative: Vorsitzender Mark Rothenpieler (links) und Initiator Günter Messerschmidt wollen bei den Planungen für den Abriss und den Neubau ein Mitspracherecht. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Eine Straße weiter den Hang hinauf wohnt Günter Messerschmidt (81) in einem Haus, das er selbst gebaut hat. Meißner Porzellan hängt an der Wand, im Radio läuft „Let it be“ von den Beatles, vom Wohnzimmerfenster schaut man auf die Brücke. Kurz nach ihrer Fertigstellung 1969 zog er ein. „Aber so emotional darf man da nicht sein“, sagt er. „Bei einem entsprechenden Preis bin ich bereit, zu verkaufen.“

Früher war er Polizeibeamter. Damals noch, bevor die Geländer der Brücke deutlich erhöht wurden, sei im Schnitt einer im Monat von der Brücke gesprungen. Wenn es schlecht lief, dann hatte er Dienst und wurde zum Fundort gerufen. Fast jeder der Nachbarn kann hier eine Geschichte dazu erzählen.

Großbaustelle über Jahre: Dreck und Lärm zu erwarten

Messerschmidt hat im Mai 2022 eine Bürger-Initiative auf den Weg gebracht, deren Vorsitzender Mark Rothenpieler (43) mit am Tisch sitzt. Auf seinem iPad wischt er Karten und Zeichnungen zur Brücke herbei. „Das wird unangenehm, das ist uns bewusst“, sagt Rothenpieler. Der Lärm, der Dreck, die Baustraßen.

Sein Elternhaus befindet sich in der Straße, vor fünf Jahren ist er mit seiner Familie in die Nachbarschaft gezogen. Mit der Bürger-Initiative wollen sie zumindest Einfluss nehmen können auf das, was die Autobahn GmbH Westfalen plant. Und es frühzeitig erfahren.

„Es gab eine Zeit, da ging es hoch her, wenn hier nur drei Vermesser auf der Straße standen“, sagt Ro­thenpieler. Das machte alle nervös, weil keiner was wusste. „Da wurden sich die tollsten Dinge erzählt. Es gab schon vor Jahren Leute, die gesagt haben, dass sie ihr Badezimmer nicht mehr renovieren, weil ja angeblich eh alles hier wegkommt.“ Er schüttelt den Kopf, denn so sei das ja gar nicht. 400 Flyer haben sie zuletzt verteilt, um für Mitglieder zu werben. 50 Zusagen hätten sie schon. Könnten mehr sein. Viele blenden vielleicht noch aus, was irgendwann unausweichlich wird.

Große Herausforderung: viele Kollisionspunkte im Tal

Wenn die neue Brücke fertig ist, dann sei alles besser, sagt Rothenpieler: die Optik, der Lärmschutz, einfach alles. Aber der Weg dahin ist lang und beschwerlich. Der Neubau müsse „unter ständiger Aufrechterhaltung des Verkehrs auf der Autobahn erfolgen“, teilt die Autobahn GmbH Westfalen auf Nachfrage mit. Die elf Pfeiler müssen also stehen bleiben, während das neue Bauwerk entsteht. „Somit steht sich die Siegtalbrücke selbst im Weg“, wie die Behörde formuliert: „Komplettiert wird die Herausforderung durch viele Kollisionspunkte im Tal.“ Gemeint sind nicht nur Wohn- und Gewerbegebiete, sondern Bundes-, Landes-, Kreis- und Stadtstraßen, Bahnanlagen, Freileitungen und die Sieg.

Stadtteil Eiserfeld unter der Siegtalbrücke: viel Wohnbebauung.
Stadtteil Eiserfeld unter der Siegtalbrücke: viel Wohnbebauung. © www.blossey.eu / FUNKE Foto Service | Hans Blossey

„Wir haben wenig Bock auf das, was da kommt, aber je schneller es losgeht, desto besser“, sagt Rothenpieler. Nach seinen Informationen sei die derzeitige Planung wohl die, dass die Brücke in Fünf-Meter-Stücken nach und nach abgesägt werde. Häuser und Straßen würden dazu eingehaust und abgesichert -- zum Schutz vor herabfallenden Gegenständen. Die Autobahn GmbH lässt wissen, dass „die Entscheidung für eine Rückbauvariante“ noch ausstehe. Klar sei aber, dass die Arbeiten tagsüber und in der Woche stattfinden sollen.

Wegen des Neubaus: verkaufen und wegziehen

Aber vieles bleibt für die Menschen eben ungewiss. Und für jeden fühlt sich das anders an. Noch weiter oben am Hang hat die Familie Schütz in zwei Häusern ein Tischlerei- und Bestattungsunternehmen sowie Wohneinheiten. Ihre Häuser sind auch rot markiert. Was aus ihnen wird? „Das ist noch gar nicht klar“, sagt René Schütz, der einen Pullover trägt, auf dem „Abi 2019“ steht und das Motto: „Ein Funken Hoffnung“. Deswegen, sagt er, „zerbrechen wir uns darüber auch nicht den Kopf.“ Vater Matthias (57) und Onkel Burkhard (52) nicken dazu.

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Im Tal gibt es Menschen, die ihre Häuser ohnehin verkaufen wollen. Und Menschen, die die Chance nutzen, die sich ihnen bietet: Sie ziehen im Sommer weg, obwohl sie eigentlich nicht weg wollten. Aber alle sagen, dass sie weniger wüssten als sie wissen wollen würden. Was wiederum daran liegen kann, dass die Autobahn GmbH selbst noch wenig Genaues weiß.

Die Eheleute Melles tröstet das derzeit wenig. Die Ungewissheit macht ihnen zu schaffen. „Das ist im Kopf drin“, sagt Anneliese Melles. „Wir wissen nicht, wo wir mal landen werden. Und ehe das mal anfängt, werden wir immer älter. So alt, dass es uns vielleicht noch schwerer fällt, woanders neu anzufangen.“

<<< HINTERGRUND >>>

Alle Brücken der Autobahn 45 müssen in den kommenden Jahren neu gebaut werden, weil sie in die Jahre gekommen sind und den Verkehrsbelastungen nicht mehr standhalten. Was passiert, wenn die Instandsetzung zu spät geschieht, ist in Lüdenscheid zu sehen. Dort ist die Rahmedetalbrücke marode und deswegen seit Dezember 2021 gesperrt. Der erste Termin für eine Sprengung ist verschoben worden, ein neuer bislang nicht in Sicht.