Attendorn/Olpe. Fast acht Jahre lang versteckten Mutter und Großeltern ein Mädchen. Nun sind sie komplett getrennt. Aber warum brauchte das Jugendamt so lange?
Der erste Kindergarten-Tag, die erste Einladung zum Kindergeburtstag, das Spielen auf dem Spielplatz, die Einschulung mit Schultüte, das Sportfest oder die Kirmes – das alles ist dem achtjährigen Mädchen aus Attendorn wohl in seinem noch jungen Leben vorenthalten worden. Sein Fall beschäftigt ganz Deutschland – und viele Fragen sind noch offen. Zwar sind Kinder- und Jugendtherapeuten zuversichtlich, dass das Kind eine Chance auf ein normales Leben in der Zukunft hat, doch in den Mittelpunkt des Interesses rückt, ob das Jugendamt nicht hätte viel früher einschreiten können und müssen.
Das Kind lebte fast sein ganze Leben wohl nur mit seiner Mutter und den Großeltern zusammen. Hat es aktuell Kontakt zu ihnen?
Nein, die Achtjährige ist in einer Pflegefamilie außerhalb des Kreises Olpe untergebracht worden. „Das Familiengericht hat das Jugendamt zum Ergänzungspfleger gemacht“, so Michael Färber, der zuständige Fachbereichsleiter beim Kreis Olpe. „Beide Eltern, also die Mutter und auch der Vater, haben weiterhin ein eingeschränktes Umgangsrecht, aber derzeit wird kein Kontakt ermöglicht.“ Nach derzeitigem Kenntnisstand habe das Mädchen in den sieben Jahren außer zur Mutter und den beiden Großeltern zu keinem anderen Menschen Kontakt gehabt.
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Warum hat das Jugendamt nicht früher eingegriffen?
Fachbereichsleiter Michael Färber sagte auf Anfrage unserer Redaktion, ein Grund für das späte Eingreifen der Behörden sei, dass die ersten Hinweise anonym erfolgt seien. „Wir hatten zwar im Oktober 2020 erste Hinweise, dass das Kind sich im großelterlichen Haus aufhalte, aber wir konnten das mit den Möglichkeiten, die wir hatten, nicht feststellen.“ Die Behörden seien vor Ort gewesen, hätten das Haus zwar nicht betreten dürfen, aber hineinsehen können. „Es gab kein Spielzeug, nichts, das auf die Anwesenheit eines Kindes hätte hinweisen können“, so Färber. „Wir hatten wirklich keinerlei Hinweise, dass die anonymen Hinweise stimmen könnten.“
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Erst die knapp zwei Monaten vor dem Zugriff der Behörden im September eingegangene neue Hinweise hätten dann zum Eingreifen geführt: „Diese waren nicht mehr anonym, wir konnten mit den Hinweisgebern sprechen und so im Gespräch Ansatzpunkte festmachen, die die weiteren Schritte möglich machten.“ Unklar war bislang, ob ein – wie der Kreis Olpe mitteilte – Ehepaar, das nicht mit der Familie in direktem Zusammenhang steht, den entscheidenden Hinweis gegeben hatte oder ein Familienmitglied der Kindsmutter. Nach Informationen dieser Zeitung war es tatsächlich das Ehepaar. Als die Behörden dann bei einem engen Verwandten der Kindsmutter in Süddeutschland nachfragten, verdichteten sich die Erkenntnisse, dass die Frau gar nicht mit ihrem Kind in Italien lebt. Dass es dann noch einmal zwei Monate dauerte, bis das Amtshilfeersuchens an die italienischen Behörden über das Bundesamt für Justiz bearbeitet wurde, hatte das Olper Jugendamt zunächst nicht stutzig gemacht. „Wir hatten bisher keinen vergleichbaren Fall, so dass wir nicht abschätzen konnten, wie lange so ein Verfahren dauert“, sagt Michael Färber.
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Warum ermittelt nun die Staatsanwaltschaft auch gegen das Jugendamt?
Das, so Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss, liege in der Natur der Sache. „Wenn wir herausfinden wollen, wie es geschehen konnte, dass das Mädchen so lange nicht das Haus verlassen konnte, dann müssen wir selbstverständlich auch die ganzen Abläufe beim Jugendamt prüfen.“ Noch werde aber nicht gegen konkrete Personen beim Kreis Olpe ermittelt. Mutter und Großeltern, gegen die wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen ermittelt wird, schweigen bisher. Sie haben auf Kontaktanfrage unserer Zeitung vor Ort nicht reagiert, ob sie schon anwaltliche vertreten sind, ist bislang noch nicht bekannt. Die Polizei befragt nun weitere Zeugen.
Wer kontrolliert das Jugendamt des Kreises Olpe?
Das ist unklar. Landrat Theo Melcher (CDU) hatte angekündigt, dass der Kreis jetzt die „die verfahrensbezogenen Vorgänge im eigenen Haus“ überprüfe. Ob es – neben den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen – aber auch noch weitere Untersuchungen übergeordneter Behörden gibt, ist ungewiss. Die Bezirksregierung in Arnsberg, so versicherte Pressesprecher Christoph Söbbeler, sei als Kommunalaufsicht nicht zuständig: „Das gehört nicht zu unseren Aufgabenbereichen.“ Das Landesjugendamt des Landschaftsverbandes oder das NRW-Familienministerium seien zuständig.
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Da das Kind abgemeldet oder von der Bildfläche in Attendorn verschwunden sei, als es ein- oder eineinhalb Jahre alt gewesen sei, sei man auch bei der Schulpflicht nicht aktiv geworden: „Dann wird eine solche Familie natürlich auch nicht mehr angeschrieben, wenn es um eine Einschulung geht.“ Dem Zugriff der Schulaufsichtsbehörde sei es dadurch entzogen gewesen: „Das Kind war weg, lange bevor es schulpflichtig war.“ Aber auch die Pressestelle des Landschaftsverbandes, zu dem das Landesjugendamt gehört, erklärte, dass man nicht zuständig sei für die Kontrolle der örtlichen Jugendämter. Und ebenso das NRW-Familienministerium. Von dort verweist man darauf, dass die Rechtsaufsicht über das Kreisjugendamt Olpe beim Kommunal- und Heimatministerium liege. Von dort steht eine Antwort noch aus.
Gibt es neue Hinweise zum Motiv der Mutter und der Großeltern?
Keine gesicherten. Offenbar habe die Mutter vermeiden wollen, dass ihre Tochter Umgang mit ihrem – getrennt von den beiden lebenden – Vater hat, schildert Michael Färber vom Jugendamt des Kreises Olpe. Der Vater habe sich ans Familiengericht gewandt, das dann 2016 das Sorgerecht für beide Elternteile bekräftigte. Beim Gerichtsentscheid sei als Wohnort von Mutter und Tochter eine italienische Adresse angegeben gewesen, unterstrich Färber. Auch die Schwester des Kindesvaters erklärte im Gespräch mit dieser Zeitung, dass dieser im Jahr 2014 eine Wohnung für die damals schon von ihm getrennt lebende Mutter und das gemeinsame Kind gemietet habe. Dort sei sie aber nie eingezogen. Der vermeintliche Umzug nach Italien sei in den Zeitraum gefallen, in dem der Kindsvater eine neue Beziehung mit einer anderen Frau eingegangen sei.
Hätte ein solcher Fall auch bei einem vorgetäuschten Umzug innerhalb Deutschlands geschehen können?
Zumindest wäre es wohl schwieriger geworden, das Kind so lange zu verstecken. So gibt es einen Kontrollmechanismus: In Deutschland gibt es das System vorgeschriebener Kinderarzt-Untersuchungen in einem bestimmten Rhythmus, die die Mediziner den Jugendämtern melden müssen. Werden die nicht eingehalten, wird die Behörde aktiv. Und mit dem sechsten Lebenjahr greift die Schulpflicht. Auf europäischer oder gar internationaler Ebene gibt es eine solchen Austausch aber nicht.