Hagen. Kaiserhymne singen, Behörden ablehnen: In der Region leben wohl mehr als 300 Reichsbürger. Welche Gefahr geht von ihnen aus? Ein Überblick.

Als die Handschellen klickten, die Bilder von schwer gesicherten Polizeiaktionen gegen Mitglieder der Reichsbürgerszene vor gut zwei Wochen durch die Republik gingen, da blieb es in Südwestfalen und auch in ganz NRW ruhig. An den mutmaßlichen Umsturzplänen einer Gruppe um Heinrich XII. Prinz Reuss waren Reichsbürger aus der Region offensichtlich nicht beteiligt. Doch es gibt sie auch hier – und teilweise habe sie auch hier schon für Schlagzeilen gesorgt. Ein Überblick:

Wie viele Reichsbürger gibt es in der Region?

Die Zahl lässt sich nicht exakt benennen, man kann sich ihr aber annähern. Für ganz Nordrhein-Westfalen geht der Verfassungsschutz für das Jahr 2021 von etwa 3400 Anhängern der Reichsbürger-Bewegung aus, die die Vorstellung eint, dass die Bundesrepublik Deutschland kein legitimer Staat ist, folglich deren Behörden auch keine Legitimität besitzen. Im Jahr davor ging man noch von 3200 Anhängern aus. Wenn man genauer auf Südwestfalen schaut, sind hier zwei unterschiedliche Staatsschutzabteilungen der Polizei zuständig. Für den einen Teil ist dies das Polizeipräsidium Hagen. Hier geht man aktuell von 176 Personen aus, die dem Spektrum der Reichsbürger zugeordnet werden – aufgeteilt auf die folgenden Kreise und Großstädte:

  • Stadt Hagen: 9 Personen
  • Ennepe-Ruhr-Kreis: 37 Personen
  • Märkischer Kreis: 70 Personen
  • Kreis Olpe: 7 Personen
  • Siegen-Wittgenstein: 53 Personen

Zurückhaltender ist man beim Polizeipräsidium Dortmund, dessen Staatsschutzabteilung unter anderem für den Hochsauerlandkreis, die Kreise Soest und Unna und eben Dortmund zuständig ist. „Die Zahlen liegen in allen Kreisen jeweils im mittleren bis unteren zweistelligen Bereich“, bleibt Polizeisprecherin Nina Kupferschmidt eher vage. „Nur Dortmund liegt - mutmaßlich aufgrund der größeren Einwohnerzahl - etwas höher, aber ebenfalls noch deutlich im zweistelligen Bereich.“ In Summe dürften es in Südwestfalen und Dortmund also deutlich mehr als 300 Reichsbürger sein.

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Insgesamt gehe man davon aus, dass die Zahl der Reichsbürger im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Dortmund eher zurückgehe als steige. Und auch beim Polizeipräsidium Hagen sagt man, dass die Zahl in den vergangenen drei Jahren auf einem relativ konstanten Niveau geblieben sei.

Sind die Reichsbürger in der Region untereinander vernetzt?

Offensichtlich nicht – das ist die übereinstimmende Einschätzung der Staatsschutzabteilungen in Hagen und Dortmund. „Es handelt sich um eine sehr heterogene Gruppe. Die Vorstellungen der Personen unterscheiden sich mitunter deutlich“, sagt Tino Schäfer, Sprecher des Polizeipräsidiums Hagen. „In Einzelfällen gibt es ‚Kennverhältnisse‘ und lose Verbindungen. Organisierte Strukturen sind hier aber nicht bekannt.“ Und auch seine Dortmunder Kollegin Nina Kupferschmidt sagt: „Eine Vernetzung oder organisierte Strukturen sind nicht festzustellen. Es handelt sich vielfach um Einzelpersonen.“ Eine Einschätzung, die auch der Verfassungsschutz NRW in seinem Bericht teilt: „Die heterogene Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter besteht aus einer Vielzahl von Einzelpersonen und Kleingruppen, die zum Teil miteinander kooperieren, sich zum Teil aber auch scharf voneinander abgrenzen.“ NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hat aber vor wenigen Tagen im Innenausschuss gewarnt, die Reichsbürger trotzdem nicht zu unterschätzen: Insbesondere, weil die Gefahr bestehe, dass sie sich mit anderen Szenen, etwa rechtsextremistischen, vermische und daraus feste Organisationsstrukturen entstehen könnten.

Sind die Reichsbürger in der Region für Straftaten verantwortlich?

Ein Fall aus Südwestfalen hatte vor knapp zwei Jahren für Schlagzeilen gesorgt: In einem Dorf bei Bad Laasphe nahm ein schwer gesichertes Spezialeinsatzkommando der Polizei einen 52-Jährigen fest, der als Sportschütze geschult im Umgang mit Waffen war. Er galt als Anhänger der Reichsbürger-Szene und sollte den damaligen Wuppertaler Oberbürgermeister, eine Richterin und andere Personen sehr konkret bedroht haben. Hintergrund war offensichtlich ein Verfahren vor dem Familiengericht nach einer Trennung und der Umgang mit seinen Kindern. Letztlich kam es aber zu keinem Strafverfahren, weil der 52-Jährige als schuldunfähig galt und in eine forensische Klinik eingewiesen wurde.

Und auch sonst tauchen immer wieder Fälle vor den hiesigen Amtsgerichten auf, wo Angeklagte die Legitimität des Gerichts in Zweifel ziehen oder sich bei Polizei- oder sonstigen Behördeneinsätzen renitent gezeigt hatten. Darüber hinaus gibt es aber keine konkreten Zahlen zu Reichsbürger-Straftaten in Südwestfalen. Diese, so die Polizei würden nicht gesondert erfasst. Der Verfassungsschutzbericht ging im Jahr 2021 von 69 Straftaten im Zusammenhang mit der Reichsbürgerbewegung aus (eine Steigerung von knapp 41 Prozent im Vergleich zum Vorjahr), darunter acht Gewaltdelikte.

Ist die Reichsbürger-Szene bewaffnet?

Laut NRW-Sicherheitsbehörden haben aktuell 123 Menschen aus der rund 3400 Personen umfassenden Reichsbürger-Szene in NRW eine waffenrechtliche Erlaubnis, 37 sogar eine Waffenbesitzkarte. 118 Personen, die eine waffenrechtlich Erlaubnis haben, wurden oder werden überprüft. Das kann auch die Dortmunder Polizeisprecherin Nina Kupferschmidt für ihren Zuständigkeitsbereich bestätigen: „Die intensive Arbeit des Staatsschutzes hat zu einer umfassenden Entwaffnung erkannter Reichsbürger geführt. Aktuell ist davon auszugehen, dass die erkannten Reichsbürger und Selbstverwalter in unserem Zuständigkeitsbereich keine legalen Waffen besitzen oder das entsprechende Verwaltungsverfahren angestoßen wurde.“

Wo zeigt sich die Reichsbürgerszene sonst noch in der Region?

Am öffentlichsten sicherlich in Menden im Sauerland. Hier residiert in einem Ladenlokal in der Innenstadt die so genannte „Gemeinwohlkasse“, die auch Einzug in den NRW-Verfassungsschutzbericht gefunden hat. Es handele sich dabei um ein „bankenähnliches Gebilde“, das das „Königreich Deutschland“ rund um den selbst ernannte König von Deutschland, Peter Fitzek, initiiert hatte. Zugang zu dem Ladenlokal haben nur „Staatsangehörige des „Königreichs“, die Mitgliedschaft kann man dort kaufen. In NRW ist die Mendener Gemeinwohlkasse die erste ihrer Art, in Ulm, Dresden und Wittenberge gab es zuvor wohl schon welche. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (Bafin) hatte den Betrieb der Gemeinwohlkasse zwischenzeitlich untersagt. Der Betreiber hat dagegen aber Rechtsmittel eingelegt. Noch läuft das Verfahren.

Aktiv in NRW ist laut Verfassungsschutz auch die Reichsbürger-Organisation „Vaterländischer Hilfsdienst“ (VHD). Zuletzt trafen sich Aktivisten der „Provinz Westfalen“ wohl am 17. September im „Gebiet Dortmund“. Ein Foto diese Treffens im Internet zeigt knapp 30 Frauen und Männer unterschiedlichen Alters. Die Veranstalter selbst schreiben: „21 Männer, 6 Weiber, 4 Knaben und ein Mädchen“ hätten teilgenommen. Unter anderem habe der Regionalleiter Gelsenkirchen aus dem Buch „Des Deutschen Volkes Wille zum Leben“ aus den Jahre 1917 vorgelesen, „welches Parallelen zur heutigen Zeit aufweist“. Eine Staatsangehörigkeitsprüfung habe stattgefunden. Und der Höhepunkt sei das gemeinsame Singen gewesen: Mit dem „Preußenlied/Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben“ und der Kaiserhymne.

>> INFO: Polizistin suspendiert

  • Bei den bundesweiten Razzien gegen die Reichsbürger-Szene war NRW aber kein Schwerpunkt, hier wurden nur drei Objekte von zwei Personen durchsucht.
  • Darunter war eine Polizistin aus dem Kreis Minden-Lübbecke, deren Wohnung und Arbeitsplatz durchsucht wurden.
  • Sie wird in dem Verfahren als Beschuldigte geführt und ist vom Dienst suspendiert.