Ennepetal. Die Zuwanderungszahlen erreichen Rekordwerte, die Kommunen in der Region funken SOS. Wie zwei Flüchtlingsbetreuerinnen das Chaos bewältigen.

Der junge Mann aus der Ukraine ist jetzt erst mal hier gelandet: Rathaus Ennepetal, Zimmer 139, das Büro von Frau M. Kraft, Flüchtlingsbetreuerin, zuständig für Personen, deren Nachname mit Buchstabe A oder B beginnt. Klingt, als ließe sich das Problem eingrenzen. Ist aber nicht der Fall.

Seit Wochen funken die Kommunen SOS, weil die Flüchtlingszahlen sogar die aus dem Jahr 2015 übertreffen. Dabei hatten viele im Sommer – auch in Ennepetal – gedacht, das Gröbste wäre überstanden, die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöste, neuerliche Flüchtlingswelle abgeebbt. Doch das war nix. „Das größte Problem ist die Wohnraumknappheit. Die Kommunen wissen nicht mehr, wohin mit den Flüchtlingen“, sagt Martin Küpper, der Chef von Mareike Kraft, während seine Mitarbeiterin mit erstaunlicher Sachlichkeit feststellt: „Wir werden noch Zuweisungen bekommen – und zwar nicht zu knapp.“

Rekordwerte bei den Flüchtlingszahlen, aber dafür auch mehr Erfahrung

Mareike Kraft, eine zierliche junge Frau, ist bei der Stadt Ennepetal zuständig für so ziemlich alles, was Flüchtlinge betrifft. Nicht nur von A bis B, sondern von A bis Z. An diesem Dezembertag heißt das zunächst: A wie Ankommen. „Nehmen Sie Ihre Tasche ruhig mit rein“, sagt also Mareike Kraft zu dem Ukrainer, der mit Gepäck überraschend vor ihrem Büro aufgetaucht ist. Erwartet worden war ein türkischer Flüchtling, der ihnen aus einer Landeseinrichtung zugewiesen worden ist. Der Mann taucht aber nicht auf. Dafür der Ukrainer. I wie Improvisieren ist jetzt gefragt.

Früher wäre Mareike Kraft vielleicht in Hektik geraten. Aber zum einen ist sie, obwohl erst 32, schon seit 2015 dabei, hat also Angela Merkels „Wir schaffen das“ miterlebt, als keiner auf die Flüchtlingskrise vorbereitet war. Das war eine harte Schule.

Zum anderen sind die Zahlen heute zwar dramatischer als damals, weil zu all den Asylbewerbern aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Iran die Ukrainer oben drauf kommen. Doch, das ist P, das Paradoxe: Über die Jahre hat sich R wie Routine gebildet (bis zu einem gewissen Punkt zumindest). Außerdem, und vielleicht ist das das Wichtigste: Mareike Kraft – eine Sozialarbeiterin – macht dem Ruf ihres Berufs alle Ehre. Sie zeigt sich als wirklich sehr verständnisvolle Frau.

Sie mögen ihre Arbeit, obwohl die sehr stressig ist: Mareike Kraft (links) und Aliena Rexa, die bei der Stadt Ennepetal als Flüchtlingsbetreuerinnen arbeiten.
Sie mögen ihre Arbeit, obwohl die sehr stressig ist: Mareike Kraft (links) und Aliena Rexa, die bei der Stadt Ennepetal als Flüchtlingsbetreuerinnen arbeiten. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Es gibt wohl Neiddebatten unter Flüchtlingen

Vormittags stellt sich in der Flüchtlingssprechstunde eine Nigerianerin vor. Sie ist aufgebracht, ihr ist da irgendwas mitgeteilt worden, sie hat mehrere Schreiben dabei. Die Lage ist zunächst unübersichtlich, zumal die Dame kein Deutsch spricht, dafür ein recht spezielles Englisch. „Sie hat Angst, den Job zu verlieren. Sie muss Miete zahlen und eine Tochter in Nigeria versorgen“, erklärt Mareike Kraft später.

Sie kennt und versteht ihre Klientin, bemüht sich um Klärung, nickt oft verständnisvoll, sagt wiederholt: „Yes.“ Andere hätten wahrscheinlich mal No gesagt. Geduld braucht’s in dem Job schon. „I have to ask Jobcenter“, sagt Mareike Kraft irgendwann. Streng genommen wäre das in diesem Fall wohl nicht ihre Aufgabe, aber, wie erwähnt, sie sagt da eher Yes als No. Außerdem sind die Zuständigkeiten im deutschen Bürokratie-Dschungel auch ein Thema für sich.

Ukrainer beispielsweise bekommen sofort eine Aufenthaltserlaubnis, sie dürfen arbeiten, ihre Kinder zur Schule gehen. Alle anderen müssen in der Regel einen Asylantrag stellen. Was sie dürfen, welche Leistungen sie bekommen und welche Behörde zuständig ist, hängt vom Aufenthaltsstatus ab. Es gibt wohl Neiddebatten unter Flüchtlingen, auch die landen schon mal bei Mareike Kraft und ihrer Kollegin Aliena Rexa (Büro 140, gleich nebenan, Nachnamen: Berh bis Me). Wie so vieles.

„Wir machen ganz viel Vermittlung. Wir kümmern uns um die Unterbringung, wir bieten Orientierung, was es alles gibt, wer für wen zuständig ist. Wir schlichten auch in den Flüchtlings-Unterkünften, um den Hausfrieden zu wahren“, sagt Mareike Kraft.

Sprach-App hilft beim Übersetzen – oder der „Telefon-Joker“

Vor den Büros der beiden hat sich auf dem Rathausflur eine Schlange gebildet. Während sich Aliena Rexa, 27, um einen Nigerianer kümmert, der sich in einer Flüchtlingsunterkunft geprügelt haben soll und Post von der Staatsanwaltschaft mitgebracht hat (J wie Justiz), stellt sich in Zimmer 139 ein sehr freundlicher Armenier vor, der einen Deutsch-Kurs belegen möchte. „Viele Danke“, sagt er viele Male zu Mareike Kraft. Erst mal dolmetscht er aber für eine Ukrainerin, die eine Meldebescheinigung benötigt.

Viele ukrainische Flüchtlinge, sagen Mareike Kraft und Aliena Rexa, sprächen kein Englisch. Wer keinen Dolmetscher mitbringt, mit dem verständigen sie sich via Sprach-App auf dem Handy. Wenn die nicht weiterhilft, wird schon mal ein städtischer Hausmeister ukrainischer Abstammung hinzugeschaltet. Wie der Telefon-Joker bei „Wer wird Millionär?“.

„Die Situation ist schon extrem“

Im weiteren Verlauf ihrer Sprechstunde geht es um Aufenthaltserlaubnisse, Integrationskurse, Zuschüsse zu ÖPNV-Tickets. Eine ukrainische Familie, die erst am Vortag in Ennepetal angekommen ist, wird von Mareike Kraft über den Flur eskortiert, vorbei an Büros fürs Wohngeld (A-H, I-J, K-Z) oder für ambulante Hilfen für unbegleitete Minderjährige bis schließlich zum Sozialamt, wo sie ein finanzielles Starterpaket erwartet. „Der Tag ist ein Spiegelbild der vergangenen Monate. Die Situation ist schon extrem“, sagt Mareike Kraft. Dennoch mag sie ihren Job, auch wenn momentan alle – auch viele anderen Behörden – überrannt werden und über Personalmangel klagen.

Zwei Tage später, Ortstermin in der Turnhalle, in welcher der neu angekommene Ukrainer untergebracht wurde. Es ist eine Notunterkunft, ein Provisorium. Die einzelnen Parzellen sind mit Bauzäunen und Planen getrennt. Privatsphäre? Na ja. Ende Juni war die Halle leer. Jetzt aber sind nicht nur eine Schule, die bereits seit 2015 als städtische Flüchtlingsunterkunft dient, Gemeinschaftsunterkünfte und Mietwohnungen voll. Nein, eine weitere Schule wird gerade als Herberge reaktiviert – und in der Turnhalle sind 21 von 50 Plätzen belegt. Noch geht was, aber nicht mehr viel.

In der Halle meldet sich ein junger Flüchtling, Zahnschmerzen. Elena Schäfer, die für das Deutsche Rote Kreuz in der Halle arbeitet und Russisch spricht, erkundigt sich, welche Behörde zuständig ist. Sozialamt? Jobcenter? Jugendhilfe?

F wie Fragen. Beantworten sollen sie: Mareike Kraft und Aliena Rexa.

>> HINTERGRUND: Flüchtlings-Zahlen haben sich teilweise verfünffacht

  • Die Zahlen in der Grafik unten zeigen, wie sehr die Belastung der Kommunen in der Region durch eine immer größere Zahl an Geflüchteten gestiegen ist. Sie basieren auf der Übersicht zur „Zuweisung nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz“, die die Bezirksregierung Arnsberg monatlich veröffentlicht.
  • Doch selbst diese Zahlen, die sich binnen eines Jahres teilweise vervier- oder verfünffacht haben, ergeben noch nicht das ganze Bild. Denn enthalten sind zum Beispiel nicht die Geflüchteten, deren Asylantrag bereits positiv beschieden wurde oder die eine dauerhafte Duldung haben. Aber auch sie müssen zum Teil noch durch Sozialleistungen weiter unterstützt werden. So rechnet die Stadt Ennepetal vor, dass sie in Summe aktuell rund 830 Geflüchtete betreut, nicht „nur“ 532 wie in der Statistik .