Hagen. Ein Mädchen wird in Attendorn jahrelang in einem Haus festgehalten. Warum ein Fachpolitiker in der Folge jetzt Jugendämter zusammenlegen will.

Eine Mutter hielt mitten im beschaulichen Attendorn offensichtlich über Jahre ihre Tochter, die nun neun Jahre alt wird, im Haus fest. Die Großeltern deckten das Ganze, soweit es bislang bekannt ist. Dieser Fall aus dem Sauerland hat deutschlandweit für Schlagzeilen gesorgt. Welche politischen Folgen müssen daraus gezogen werden? Der Hagener Landtagsabgeordnete Wolfgang Jörg (SPD) ist Vorsitzender des Ausschusses für Familie, Jugend und Kinder. Er bringt im Interview eine Neuordnung der Jugendamts-Landschaft in NRW ins Spiel.

Nach Bekanntwerden des Falles Anfang November war auch im politischen Düsseldorf die Betroffenheit groß. Jetzt ist es stiller geworden. Droht der Fall Attendorn schnell wieder vergessen zu werden?

Nein, überhaupt nicht. Wir als Familienausschuss werden uns noch in dieser Woche, am 15. Dezember, wieder über den aktuellen Stand informieren lassen. Und das werden wir auch künftig so lange tun, bis klar ist, was dort wirklich passiert ist. Das Schicksal des Mädchens wird nicht vergessen.

Wolfgang Jörg (SPD) ist seit 2005 Landtagsabgeordneter. Der Hagener gilt als erfahrener Fachpolitiker und ist Vorsitzender des Familienausschusses des NRW-Landtages.
Wolfgang Jörg (SPD) ist seit 2005 Landtagsabgeordneter. Der Hagener gilt als erfahrener Fachpolitiker und ist Vorsitzender des Familienausschusses des NRW-Landtages. © WP | Michael Kleinrensing

Aber welche Folgen ziehen sie aus dem Fall?

Der Fall Attendorn steht ja nicht alleine. Wir haben es in den vergangenen Jahren immer wieder damit zu tun gehabt, dass es Fehler bei Jugendämtern gegeben hat, die zu schweren Folgen für Kinder geführt haben. Nehmen Sie nur als extremstes Beispiel den Fall Lügde, wo die inzwischen verurteilten Täter Kinder missbrauchen konnten, die über Jahre unter Aufsicht des Jugendamtes standen. Wir als Familienausschuss und auch ich als dessen Vorsitzender stellen nicht die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter unter Generalverdacht, die eine schwierige und so wichtige Arbeit leisten. Aber wir müssen jeden Fall genau analysieren und prüfen, welche Folgerungen für das System der Jugendämter gezogen werden müssen.

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Und die wären?

Wir haben zum Beispiel mit dem neuen Kinderschutzgesetz schon den Personalschlüssel der Jugendämter erhöht. Diese Stellen nun zu besetzen, ist aber nicht so leicht. Der Markt an Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen ist leer gefegt. Aber hier ist ein erster Schritt gemacht. Wir müssen aber auch generell die Struktur der Jugendamtslandschaft in Nordrhein-Westfalen überprüfen.

Was meinen Sie damit?

Wir haben 186 Jugendämter in NRW. Das Jugendamt zum Beispiel in Köln ist viel größer als das des Kreises Olpe. Hier arbeiten viel mehr Menschen, die Zahl der zu bearbeitenden Felder ist natürlich auch viel größer. Aber die thematische Bandbreite mit ganz unterschiedlichen Fällen und Herausforderungen ist hier im Sauerland genauso groß wie in der Großstadt Köln. Deshalb müssen wir uns fragen, ob diese Struktur die richtige ist. Kann es nicht Sinn machen, Jugendämter zusammenzulegen, größere Einheiten zu bilden oder zumindest Schwerpunkt-Jugendämter zu bilden, die sich speziell um gewisse Themenbereiche kümmern? Das kann zu einer höheren Professionalisierung führen, die helfen kann, so unterschiedliche Fälle wie Attendorn und Lügde zu verhindern.

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Was der Fall Attendorn auch noch einmal gezeigt hat: Es scheint keine wirkliche Aufsichtsbehörde für die kommunalen Jugendämter zu geben. Warum?

In der Tat: die Jugendämter unterliegen zunächst einmal der kommunalen Selbstverwaltung. Es gibt zwar das Landesjugendamt, aber anders als der Name vermuten lässt, handelt es sich hierbei nicht um eine Landeseinrichtung. Das Landesjugendamt ist beim Landschaftsverband Westfalen Lippe angesiedelt, also quasi der Dachorganisation der Kommunen, in der sie sich zusammengeschlossen haben, um gewisse Aufgaben gemeinsam zu erfüllen, wie etwa die Versorgung mit Psychiatrie-Plätzen. Das ist im Prinzip auch gut so, das Landesjugendamt leistet eine wichtige Arbeit, berät die Kommunen. Aber wir müssen uns fragen, ob es nicht effektivere Aufsichtsstrukturen braucht, um Fehler im Jugendamtssystem besser zu erkennen.

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Sie sagen sehr oft „wir“. Gibt es im Familienausschuss keine parteipolitischen Frontlinien?

Natürlich sind die Parteien oft unterschiedlicher Meinung, manchmal geht es auch hoch her im Familienausschuss. Aber wenn es um den Schutz der Kinder geht, insbesondere wenn es darum geht, Schlüsse aus so schrecklichen Fällen wie Lügde zu ziehen, dann stehen die Fachleute der vier demokratischen Parteien, CDU, SPD, Grüne und FDP, zusammen. Da sehen Sie daran, dass wir parteiübergreifend das Kinderschutzgesetz verabschiedet haben – als erstes Bundesland in ganz Deutschland. Dieses gilt es aber immer weiter zu entwickeln. Daher müssen wir auch den Fall Attendorn genau analysieren und prüfen, welche Schlussfolgerungen wir für das Kinderschutzgesetz ziehen müssen. Ich bin mir sicher, dass wir das wieder parteiübergreifend schaffen werden.

Sie sind erfahrener Familienpolitiker. Was ist für Sie das Besondere an dem Fall Attendorn?

Bei allem, was wir bislang wissen, hat die Mutter etwas sehr Falsches getan. Sie hat ihre Tochter von der Außenwelt ferngehalten, ihr damit Schaden zugefügt. Aber wir haben es auch mit einer Mutter zu tun, die ihr Kind liebt. Damit ist dieser Fall noch einmal etwas ganz anderes als die Missbrauchsfälle, die uns in den vergangenen Jahren so erschüttert haben.

>> INFO: Kreis Olpe besetzt Jugendamts-Stellen

  • Sechs neue Stellen im Jugendamt will der Kreis Olpe zum neuen Jahr besetzen. Das hat zunächst nichts unmittelbar mit dem Fall Attendorn zu tun. Vielmehr werden so die Anforderungen des neuen NRW-Kinderschutzgesetzes umgesetzt, das einen höherer Personalschlüssel vorsieht.
  • Vier der sechs neu geschaffenen Stellen konnten besetzt werden: Zwei zusätzliche Sozialarbeiterinnen bzw. Sozialarbeiter treten laut Kreis ihre Stellen zum 1. Januar an, je eine weitere Fachkraft zum 1. Februar bzw. zum 1. März. Die Bemühungen, auch die beiden noch nicht besetzten Stellen vergeben zu können, liefen weiter.