Attendorn/Hamm. Wie massiv ist das Mädchen aus Attendorn beeinträchtigt, das von seiner Mutter wohl jahrelang im Haus versteckt wurde? Experten machen Hoffnung.

Was bedeutet die lange Phase der weitgehenden Isolation für das achtjährige Mädchen aus Attendorn? Und hat es eine Chance auf eine normale Entwicklung? Professor Martin Holtmann, Ärztlicher Direktor der LWL-Uniklinik Hamm, und Sabine Prüser, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin der DRK-Kinderklinik Siegen, geben im Gespräch mit dieser Zeitung ihre Einschätzungen ab.

„Solche Fälle sind sehr selten“, berichtet Martin Holtmann. Kinder bräuchten Wechselwirkung mit der Umgebung, damit sie sich normal entwickeln. Menschen, denen das in jungen Jahren verwehrt bliebe, fehlten vor allem negative Erfahrungen, an denen sie wachsen könnten. „Kinder durchlaufen verschiedene Entwicklungsphasen, in denen sie Entwicklungsaufgaben lösen müssen, um sich normal zu entwickeln.“ Das gehe nur in Wechselwirkung mit anderen Menschen. Diese Möglichkeit sei dem Kind aus Attendorn genommen worden. Auch wenn das Mädchen artikulieren, rechnen und schreiben könne, werde es nicht altersgerecht sein. Wie groß das Trauma bei dem Mädchen sei, muss laut Holtmann die Diagnostik zeigen. „Es kann sein, dass der IQ normal ist, aber die sozialen Kompetenzen eben nicht.“

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Das Jugendamt, so Holtmann, befände sich in einem Dilemma: „Wie sehr muss ich die Mutter dem Kind entziehen, um mit psychotherapeutischer Begleitung eine heilsame Wirkung herbeiführen zu können?“ Vor dieser Frage stünde das Amt jetzt. Ein kompletter Bruch sei möglicherweise nicht der richtige Weg. „Sie müssen herausfinden, welche Dosis an Kontakten zur Mutter und Oma hilfreich sind.“

Mit großer Sensibilität vorgehen

Ähnlich sieht das auch Sabine Prüser, die die Traumaambulanz der DRK-Kinderklinik Siegen leitet. Mit großer Sensibilität müsse beim Entzug der Bezugspersonen des Attendorner Mädchens vorgegangen werden: „Dies ist ein Punkt, an dem große Sensibilität und auch fachliche Expertise notwendig sind, um Fragen zum weiteren Umgang eines Kindes in derartiger Situation mit seinen engen Bezugspersonen verantwortungsvoll zu entscheiden.“

 Prof. Dr. Martin Holtmann von der LWL-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Hamm.l
Prof. Dr. Martin Holtmann von der LWL-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Hamm.l © WAZ FotoPool | GATZMANGA, Karl

Auf lange Sicht wäre es für Martin Holtmann „wunderbar“, wenn die Psychologen es schaffen könnten, aus dem Kind eine gesunde Jugendliche werden zu lassen. Sie müssten sehr dosiert vorgehen. „Sofort mit ihr auf die Allerheiligenkirmes zu gehen, wäre zu viel.“ Man müsse von Tag zu Tag, Woche zu Woche sehen, was machbar ist. „Wie reagiert es auf andere Kinder, wie kommt es in der Gruppe zurecht? Das sind Fragen, mit denen man sich in der Diagnostik auseinandersetzen muss. Andere Kinder haben Jahre Zeit zu lernen, wie man Kontakt zu anderen aufnimmt.“

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Für Kinder, wie dem Mädchen aus Attendorn, werde es wichtig sein, Antworten auf die Fragen zu finden, warum sie anders aufgewachsen sind. „Und solch betroffene Kinder werden sich mit ihrer Identität intensiver auseinandersetzen als andere das tun.“ Jeder Mensch besitze eine individuelle seelische Robustheit. Die Perspektive des Mädchens hänge davon ab, wie gesund sie sei, welche Resilienz sie besitze. „Kinder kommen oft überraschend gut mit extremen Belastungen zurecht.“ Aber alles brauche seine Zeit.

Wichtig sei nun, so Sabine Prüser, dass es Menschen gebe, die das Mädchen liebevoll begleiten und dafür sorgen, dass es sich traut seine Umwelt zu erforschen. Es brauche jetzt Bezugspersonen, „die feinfühlig wahrnehmen, wie es dem Kind geht und es an die Hand nehmen“.