Bad Berleburg/Siegen. Aktuell kümmert sich niemand mehr um die Wisente im Rothaargebirge, dabei sind Winter-Fütterung und Inzuchtvorbeugungen nötig. Wie kann das sein?
Die wilde Wisent-Herde lebt derzeit ohne jegliche Betreuung im Rothaargebirge. Das haben sowohl der Kreis Siegen-Wittgenstein als auch der Wisentverein in Bad Berleburg auf Anfrage der WESTFALENPOST eingeräumt. Das birgt ein erhebliches Problem-Potenzial für den Winter, denn Kreis wie auch Wisentverein gehen davon aus, dass die offensichtlich 25 Tiere durch so genannte Lenkungsfütterungen davon abgehalten werden müssen, für die Futtersuche noch weitere Wege zurückzulegen. Dann könnte es zu weiteren Schäden etwa auf landwirtschaftlichen Flächen kommen, zudem werden zusätzliche Gefahren etwa im Straßenverkehr befürchtet.
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Doch wer diese Fütterungen durchführt, ist völlig unklar. Die Wisente werden derzeit nicht betreut, weil der Wisentverein vor sechs Wochen den Vertrag mit öffentlichen Stellen (Kreis Siegen-Wittgenstein, Bezirksregierung Arnsberg, Landesbetriebe Wald und Holz) gekündigt hatte. Der war die Grundlage für die Ansiedlung der Wisente, die von Beginn an umstritten und Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen Waldbauern aus dem Sauerland und dem Wisentverein war. Die Waldbauern waren letztlich erfolgreich: Der Wisentverein hätte dafür sorgen müssen, dass die Tiere nicht weiter Bäume der Waldbauern schädigen.
Mit der Vertragskündigung hatte der Wisentverein die Tiere Ende September jedoch für herrenlos erklärt, sprich: sein Eigentum an den Tieren abgegeben und auch die Betreuung eingestellt. Seitdem ist unklar, was mit den Tieren geschieht.
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Hartmut Schauerte, Ex-CDU-Bundestagsabgeordneter und Anwalt, der die Interessen von Waldbauern vertritt, hält das für einen unerträgliche Zustand: „Die Waldbauern werden allein gelassen. Sie müssten doch jetzt eingebunden werden, um Transparenz zu schaffen, wie es weitergehen soll. Wir erleben hier aber ein völliges Wegducken der Behörden, auch des NRW-Umweltministeriums.“
Laut Arno Wied, Umweltdezernent des Kreises Siegen-Wittgenstein, wird zumindest an einer Lösung für diesen Winter gearbeitet: „Die öffentlichen Dienststellen befinden sich derzeit in der Abstimmung, wie eine solche Fütterung sichergestellt werden kann.“ Für die bringt sich nun auch der Wisentverein quasi als Dienstleister ins Gespräch. Wenn der Kreis den Verein damit beauftrage, könne man das leisten. Darauf wird der Kreis aber nicht eingehen: Man stehe ja auf dem Standpunkt, dass die Vertragskündigung nichtig sei und damit der Verein ohnehin in der Pflicht sei.
1. Wie viele Tiere gibt es und weiß man, wo sie sich aufhalten?
Nicht wirklich. Der Wisentverein sagt, mit der Vertragskündigung habe man jegliche Management-Maßnahmen einstellen müssen. Bei Vertragskündigung seien es etwa 25 Tiere gewesen. Wie viele es heute seien und wo sie sich aktuell aufhielten, wisse man nicht. Das gleiche Bild beim Kreis Siegen-Wittgenstein. Der zuständige Umweltdezernent Arno Wied sieht hier die Verantwortung beim Wisentverein: Weil der „die Erhebung von Funksignalen von den mit einem Sender versehenen Tieren offensichtlich eingestellt hat oder zumindest diese Daten den von dem Projekt tangierten Dienststellen nicht mehr zur Verfügung stellt“. Aufgrund von Sichtungen durch Bürger sei davon auszugehen, dass sich die Herde weiter auf dem Gebiet von Bad Berleburg und Schmallenberg aufhalte.
2. Warum sind die Wintermonate so entscheidend?
Bis zu 60 Kilogramm Gräser, Laub, junge Triebe und Baumrinde frisst ein Wisent täglich. Im Winter wird die Nahrungssituation in den Wäldern aber schlechter. Die Tiere könnten also auf Nahrungssuche noch weiter wandern. „Es ist für die Waldbauern eine unerträgliche Situation, dass nichts passiert“, sagt Hartmut Schauerte, der die Interessen von Sauerländer Waldbauern vertritt. „Der Winter kommt – und damit die Notwendigkeit, dass die Tiere so gut wie möglich von den land- und forstwirtschaftlichen Flächen gelockt werden, um die Schäden nicht weiter zu vergrößern.“ Das sehen in seltener Einigkeit auch Kreis Siegen-Wittgenstein und Wisentverein so. Der Weg dahin ist aber noch offen. „Die öffentlichen Dienststellen gehen davon aus, dass in den Wintermonaten eine Lenkungsfütterung der Herde zur Abwehr von Gefahren und Schäden notwendig ist“, so Arno Wied, der Umweltdezernent des Kreises.
Wie das geschehen soll, werde derzeit abgestimmt. Und hier bringt sich nun der Wisentverein, der ja gerade erst sein Eigentum an den Wisenten aufgegeben hat, quasi als Dienstleister ins Spiel. Man sei zusammen mit den Partnern aus der Wisent-Allianz – dem Kölner Zoo und der Deutschen Wildtierstiftung – bereit, sich um die Ablenkungsfütterung zu kümmern: „Hierzu bedarf es allerdings einer Beauftragung durch die Behörden“, so der Verein. Dessen Vorsitzender Bernd Fuhrmann ergänzt: „Die Lenkungsfütterung ist nicht nur für Wisente im Winter notwendig, sondern für viele wild lebende Tiere, wie auch für das Rotwild in unserer Region.“
3. Gibt es ein Inzuchtproblem bei der Herde im Rothaargebirge?
Der Kreis Siegen-Wittgenstein sieht eine Gefahr durch die aktuelle Situation: „Diese Folge würde unweigerlich eintreten, wenn ein Herdenmanagement dauerhaft nicht mehr stattfinden würde“, sagt Umweltdezernent Arno Wied. Das generelle Problem sieht auch Wisentvereins-Vorstand Fuhrmann: „Dass es eine Herausforderung mit dem Thema Inzucht gibt, gilt aber nicht nur für die Herde am Rothaarsteig. Das Problem begleitet alle Projekte und liegt in der Natur der Sache, weil der gesamte Bestand auf nur wenige Gründertiere zurück geht.“ 1927 war im Kaukasus das letzte bis dahin freilebende Wisent geschossen worden. Sämtliche Nachfahren der heutigen Wisente stammen aus der Linie von etwa 60 Tieren, die in Zoos und Gehegen überlebt hatten.
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Kaja Heising, die wissenschaftliche Koordinatorin des Wisentvereins, schätzt die Gefahr von Inzucht beim Wisent in Europa grundsätzlich als sehr hoch ein. Im Rothaargebirge dürfen genau aus dem Grund seit 2020 Jungbullen entnommen werden. Das Einkreuzen von frischem Erbgut müsse kontinuierlich fortgeführt werden. Und auch hier bringt sich der Wisentverein mit Kölner Zoo und Wildtierstiftung als „Dienstleister“ ins Spiel: „Wir haben aktiv daran gearbeitet, den Genpool zu verbreitern. Gemeinsam mit der Erfahrung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der Expertise in der Wisent-Allianz haben wir das Wissen und könnten weiter mit einem aktiven Herdenmanagement daran arbeiten“, so Bernd Fuhrmann.
4. Was sagt das zuständige NRW-Umweltministerium?
Nichts Neues. Seit Wochen lautet der Standardsatz, dass man die jüngste Entwicklung rund um das Wisentprojekt bedaure. Und die Kündigung des Vertrags durch den Wisentverein „vertragsrechtliche, artenschutzrechtliche und finanzielle Fragen aufwirft, die es jetzt zu klären gilt“. Das wirkt seltsam schweigsam. Der Hintergrund dürfte sein, dass sich das Ministerium wohl neutral verhalten will, da es für Artenschutz zuständig ist, die Wisente nach der Vertragskündigung – jedenfalls nach Sicht des Vereins – nun dem strengen artenschutzrechtlichen Schutz unterliegen und das Ministerium hier als Behörde Entscheidungen würde treffen müssen. Für den Laien nur schwer nachvollziehbar: Das Land NRW ist durch die Bezirksregierung Arnsberg und den Landesbetrieb Wald und Holz zwar als Vertragspartner Teil des Wisentprojekts, nicht aber durch das Umweltministerium. Hartmut Schauerte, der die Interessen der Waldbauern vertritt, geißelt das Verhalte des Umweltministeriums trotzdem als „Wegducken“. Was die Sache nicht einfacher macht: Seit der jüngsten Landtagswahl gibt es mit Oliver Krischer einen grünen Minister, der von grünen-nahen Umweltorganisationen unter Druck gesetzt wird, sich für die Wisente einzusetzen.
5. Warum werden die Tiere nicht eingefangen?
Andreas Müller, der Landrat des Kreises Wittgenstein, hatte unmittelbar nach der Vertragskündigung, davon gesprochen, dass man die Tiere nun einfangen und an andere Projekte vermitteln könne. Doch das steht aktuell nicht auf der Tagesordnung. „Die Planungen der beteiligten Dienststellen sind aktuell hauptsächlich auf die Gewährleistung einer Lenkungsfütterung in den Wintermonaten ausgerichtet“, so Umweltdezernent Arno Wied.
6. Ist doch noch ein regionaler Konsens in Sachen Wisente möglich?
Seit Jahren und bis hoch zum Bundesgerichtshof haben sich Wisentverein und Waldbauern gestritten. Inzwischen verläuft die Frontlinie auch zwischen den früheren Partnern Wisentverein und öffentliche Stellen wie Kreis und Bezirksregierung. Gibt es dennoch Hoffnung auf eine Einigung? Bernd Fuhrmann will sie nicht aufgeben. „Ja, ich bin davon überzeugt, dass es zu einem regionalen Konsens kommen wird. Was wäre denn auch die Alternative? Wir sind eine starke Region, geprägt von tollen Menschen und einem einzigartigen Naturraum. Wir können es uns überhaupt nicht leisten, Naturschutz, Artenschutz und damit Klimaschutz in irgendeiner Art und Weise zu vernachlässigen. “ Eine Lösung gebe es nur „über starke Diskussionen und den Willen zur Einigung“.
Hartmut Schauerte teilt den Optimismus nicht: „Das eigentliche handfeste Problem bleibt: Die Herde ist krank, in der Größe von 25 Tieren werden sie das Inzuchtproblem nie in den Griff bekommen. Die Zahl von 25 Tiere ist willkürlich gegriffen worden, weil mehr Tiere der Öffentlichkeit nicht vermittelbar gewesen wären. Man muss erkennen, dass solch ein Projekt hier nicht umsetzbar ist. Das Experiment muss beendet werden.“
7. Gab es Zwischenfälle, seit die Herde herrenlos ist?
Offensichtlich zumindest keine größeren: Es sei in den vergangenen Wochen ein Fall bekannt geworden, bei dem es im Verlauf einer Drückjagd zu einem Zusammenstoß der Herde mit Teilnehmern der Jagdgesellschaft beziehungsweise deren Hunden gekommen sei, so der Kreis Siegen-Wittgenstein. Weitere Informationen lägen nicht vor.
8. Welche Auswirkungen gibt es auf das Wisent-Schaugehege?
Neben der frei lebenden Herde im Rothaargebirge gibt es die „Wisent-Welt“ in Bad Berleburg-Wingeshausen, ein eingegrenztes Schaugehege mit Tieren für das der Wisentverein auch weiter zuständig ist. Negative Auswirkungen gibt es hier durch die aktuelle Diskussion offensichtlich nicht: „Der Zuspruch am Besucherareal Wisent-Wildnis am Rothaarsteig steigt“, so der Trägerverein. Das mache man an Besucherzahlen sowie zahlreicher positiver Reaktionen fest: „So besuchten uns im Oktober fast doppelt so viele Gäste allein mit der Sauerland-Card, wie üblicherweise im Oktober.“