Drolshagen. Der Maler Thomas Jessen hat seinen viel diskutierten Flügelaltar für St. Clemens in Drolshagen vollendet. Was ist auf den neuen Tafeln zu sehen?
Zwei Frauen sitzen einander auf Augenhöhe gegenüber, halten sich an den Händen. Sie könnten Schwestern sein, Cousinen, Freundinnen, Mutter und Tochter. Vielleicht ist die eine schwanger, vielleicht auch beide. Sie stehen stellvertretend für alle Frauen, denn sie wissen: Es gibt viel zu viel Leid in der Welt. Zu viele tote Kinder. Zu viele tote Männer und Frauen. Gefallen im Krieg, gestorben an Krankheiten, gefoltert und gequält. Die beiden Frauen sind auf dem neuen Flügelaltar in der St. Clemenskirche in Drolshagen abgebildet. Sie vollenden das Gemälde, indem sie zwei Schlüsselsituationen des Menschseins und des Christseins darstellen: Die Begegnung mit dem menschlichen Gegenüber. Und die Begegnung mit dem Göttlichen.
Noch nie ist in der Region über ein Kunstwerk so intensiv diskutiert worden wie über den Marienaltar, den der Esloher Maler Thomas Jessen für St. Clemens in Drolshagen geschaffen hat. Vordergründig entzündet sich die Debatte am Offensichtlichen. Die Maria trägt Jeans und einen Pullover. Darf Jessen eine Muttergottes in Jeans malen? Tatsächlich geht es aber um die vergessene Macht des Bildes, und darum, dass ein Kunstwerk die persönlichen Komfortzonen aufbricht und daher als Türöffner für religiöse Themen funktioniert.
Viele Besucher aus der ganzen Region kommen zum Altar
Pfingsten 2021 wurde der Flügelaltar eingeweiht. Er war damals noch nicht fertig, die beiden rückseitigen Tafelbilder fehlten noch. Diese sind nur zu sehen, wenn der Altar zugeklappt ist, also in der Passions- und Adventszeit. Viele Besucher aus der ganzen Region und darüber hinaus, kommen, um den Altar zu betrachten, einzeln, aber auch in Gruppen. Fotografien des Altarbildes werden in anderen Gemeinden auf Hungertücher gedruckt oder als Vorlage für Osterbilder verwendet. Viele Priester nutzen das Kunstwerk für ihre Fastenpredigten. Denn das Drolshagener Altarbild ist etwas Besonderes: Wo andere Gemeinden Kirchenabrisse beschließen, glauben und vertrauen die Drolshagener in die Zukunft ihrer Kirche und haben bei einem der angesehensten Kirchenmaler Deutschlands einen neuen Altar in Auftrag gegeben.
Altäre sollen die Zeiten überdauern, dafür sind sie angelegt. Aber sie erzählen immer von den Ängsten, Wünschen und Bedürftigkeiten der Gegenwart, in der sie stehen. Christen und Kirchenbesucher sind in der Regel mit Altargemälden konfrontiert, die mehrere hundert Jahre alt sind. Zeitgenössische figurative Altäre gibt es selten.
Teilweise heftige Reaktionen
Der Flügelaltar von Thomas Jessen fasziniert die Betrachter und ruft teilweise heftige Reaktionen hervor. Die Bandbreite reicht von tiefer Berührung bis zu Empörung. Einige konservative Christen stört es, dass die Darstellung der Gottesmutter als reife Frau in Jeans nicht ihrem persönlichen Marienbild entspricht. Der überwiegende Teil der Besucher beschreibt die Bilderfahrung jedoch als Lernprozess: Je mehr sie sich in die einzelnen Szenen vertiefen, desto bereichernder wird die Begegnung mit dem Kunstwerk. Damit wird im Zeitalter der digitalen Fotoflut das Konzept des Bildes als Kunstwerk neu erlebbar: Ein Kirchenbild soll zu nahe treten. Es lädt die Betrachter ein, ihre Gedanken zu sammeln und über das Gesehene zu meditieren. Und noch eine Erkenntnis. Die Altarbilder vergangener Jahrhunderte sind ebenfalls zeitgenössisch, weil sie immer die Gottesmutter und die Figuren der Heiligen Schrift als Menschen ihrer Zeit in den Kleidern ihrer Zeit darstellen.
Das göttliche Gegenüber
Diese Verbundenheit der Gegenwart mit der Vergangenheit betont der Maler Thomas Jessen in seiner Raumkomposition der beiden äußeren Tafeln. Anders als die Innenseiten, die einzelne Situationen beschreiben, links Christgeburt, rechts das leere Grab und die Zweifel des hl. Thomas an der Auferstehung, ist die zugeklappte Fläche als einheitlicher Bildraum definiert, allerdings in zwei Sphären geteilt.
Der Bildraum wird durch die Farbsymbolik gegliedert: Violett ist die liturgische Farbe der Fastenzeiten vor Ostern und Weihnachten. Es symbolisiert Veränderung, Verwandlung. Die beiden Frauen sind mit beiden Füßen auf der Erde fest verankert, aber hinter der rechten Frau wächst ein Streifen Himmelsblau in Richtung Firmament, in den Bereich der Transzendenz. Die obere Sphäre ist geprägt durch Gold, eine Farbe, die für das göttliche Gegenüber steht.
Mariä Verkündigung: Das Göttliche berührt die Welt
Hier passiert Erstaunliches. Das Göttliche berührt die Welt. Der Engel verkündet Maria, dass sie den Erlöser gebären wird. Thomas Jessen zitiert die Verkündigung von Meister Simone Martini, der mit diesem Gemälde im 14. Jahrhundert die internationale Gotik mitbegründete. Heute befindet sich das Tafelbild in den Florentiner Uffizien. Erstaunlich und wundersam ist in Martinis Verkündigung, wie selbstbewusst die Jungfrau Maria auf den Einbruch des Engels in ihre Welt reagiert. Fast abwehrend wendet sie, in ein Manteltuch nach der Mode des 14. Jahrhunderts gehüllt, den Blick von dem Engel mit dem Ölzweig ab. Sie akzeptiert seine Botschaft, aber sie ist alles andere als eine demütige Magd.
Die beiden Frauen darunter kommen aus unserer Zeit und wirken demgegenüber nahbar. Es handelt sich um die beiden Figuren, die der Betrachter von den Innentafeln als Maria und Veronika kennt. Nun treten sie in vieldeutiger Funktion auf. Die simultane Verkündigungsszene legt nahe, dass es sich um die Darstellung von Mariä Heimsuchung handelt, also dem Besuch der schwangeren Maria bei ihrer ebenfalls schwangeren Cousine Elisabeth. Diese Episode wird beim Evangelisten Lukas im Anschluss an die Verkündigung erzählt. „Gegrüßet seist Du Maria“, spricht der Engel, und Elisabeth sagt: „Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.“ So kommt das Ave Maria in die Welt. Maria antwortet Elisabeth: „Meine Seele lobet den Herrn.“ So kommt das Magnifikat in die Welt. Der Ereignishorizont des zugeklappten Altars beschreibt also die Entstehung der beiden bekanntesten christlichen Gebete.
Da passiert noch mehr
Doch da passiert noch mehr. Die beiden Frauen fassen sich an den Händen. Sie blicken sich in die Augen. Sie haben ein Geheimnis. Es gibt eine weitere, eine unsichtbare Präsenz. Noch ist Jesus Christus nicht geboren. Der Erlöser. Der Heiland. Der Sohn, um den die Mutter am Karfreitag weint. Die beiden Erzählungen von Verkündigung und Heimsuchung tragen die ganze Wahrheit bereits in sich, die da noch kommt, und die sich hinter den bis Ostern geschlossenen Tafeln verbirgt. Weihnachten. Kreuzigung. Auferstehung.
Pfarrer Johannes Hammer im Interview
Pfarrer Johannes Hammer wurde nach Stationen in Menden und Iserlohn im Juni 2021 als Leiter der Pastoralverbünde Olpe und Kirchspiel Drolshagen berufen. Er hat nicht nur das neue Altarbild von Thomas Jessen in St. Clemens geerbt, sondern auch die Diskussion darüber.
Ist das Bild für Sie ein Segen?
Pfarrer Hammer: Das Bild schafft eine Offenheit und Weite, die gerade jetzt notwendig ist. Was die gegenwärtige pastorale Praxis angeht, ist das Bild sehr hilfreich. Es geht um Begegnungen auf göttlicher und menschlicher Ebene. Das ist doch das, was zählt. Überall, wo sich Menschen im christlichen Sinn näherkommen, können sie sich auch verständigen. Sinnbildlich sagt das Bild in Drolshagen: Wo sich zwei Menschen, hier sind es auf der Vorderseite des Altarbilds zwei Frauen, auf Augenhöhe anschauen, da ist Gott gegenwärtig. Jeder Mensch trägt doch das Bild Gottes, das Antlitz Jesu in sich. - Ja, dieses Erbe nehme ich gerne an.
Die Diskussion um das Bild wird teils aggressiv geführt.
Die Art der Auseinandersetzung mit dem Bild erscheint mir typisch für unsere Zeit. Es gibt so viele Polarisierungen, auch im kirchlichen Bereich. Da wird manchmal schnell geurteilt und verurteilt. Der Austausch unterschiedlicher Standpunkte braucht jedoch Zeit, viel Zeit. Diese Zeit müssen wir uns nehmen. Auch im Blick auf Ostern steht das neue Altarbild für Begegnungen, die Zeit brauchen. Jesus erscheint nach seiner Auferstehung recht vielen Personen, Frauen und Männern. Die Jünger kapieren zunächst nicht, was an Ostern passiert ist. Sie müssen sogar mehrmals von ihrem auferstandenen Herrn und Meister aufgesucht werden, bis sie verstehen, dass er nach seinem Tod am Kreuz wirklich lebt.
Was ist in St. Clemens Drolshagen besonders?
In St. Clemens in Drolshagen ist es gelungen, altes und neues Kirchengebäude so zu verbinden, dass sie mit- und nebeneinander leben können, die Alte Basilika, die auf das 10. oder 11. Jahrhundert zurückgeht und der moderne Neubau aus den 1960er Jahren mit dem zeitgenössischen Altarbild von Thomas Jessen. Vielleicht sollte man das im Blick auf die gegenwärtige Situation der Kirche als gesellschaftliche Institution auch im übertragenen Sinn verstehen. Das ist doch ein fantastischer Hinweis und Impuls, dass es gelingen kann, Altes und Neues miteinander zu verbinden