Hagen. Die Hagenerin Ida Gerhardi traut sich was. Sie wird um 1900 professionelle Künstlerin und eröffnet ein Atelier in Paris.
Um 1900 betritt eine neue Spezies die Bühne der Kunst: die Malweiber, so werden sie beschimpft. Erstmals beanspruchen Frauen Platz und Anerkennung in den Salons und Ateliers. Eine Pionierin der weiblichen Malerei ist Ida Gerhardi. Für das Hagener Sammlerehepaar Osthaus bildet die Künstlerin aus Hagen und Lüdenscheid die Brücke nach Paris. Neu entdeckte Briefe erhellen jetzt die Beziehung zwischen ihr und Gertrud sowie Karl Ernst Osthaus.
Gertrud Osthaus kann von einer Karriere als professionelle Künstlerin lediglich träumen. Als Tochter der extrem wohlhabenden Textilfabrikanten-Familie Colsmann aus Langenberg bleibt ihr nur die Ehe mit einem Mann aus ähnlichen familiären Verhältnissen, dem Hagener Bankierssohn und Schraubenfabrikanten-Enkel Karl Ernst Osthaus. Ida Gerhardi hingegen wächst in Hagen als Arzttochter auf und setzt nach dem Besuch der höheren Töchterschule mit 28 Jahren ein Studium der Malerei durch. Da Frauen der Zugang zu den Kunstakademien verwehrt ist, siedeln sich in deren Umkreis sogenannte Damenakademien an.
Porträtistin der Osthaus-Familie
Schon 1891 zieht die Hagener Malerin zu weiteren Studien nach Paris. Das Geld für die Ausbildung stiftet die Hagenerin Emilie Elbers, eine Freundin ihrer Mutter. An der Seine knüpft sie enge Kontakte zu der dortigen Avantgarde. „Ida Gerhardi ist eine unglaublich wichtige Figur für Osthaus“, analysiert Dr. Birgit Schulte, Kustodin des Hagener Osthaus-Museums. „Beide hatten schon durch die räumliche Nähe viel Kontakt, sie ist seine Porträtistin, sie hat ihn und seine ganze Familie porträtiert, und sie ist seine Verbindung nach Paris.“
64 Künstlerbriefe
Vier bis dahin unbekannte Briefe von Ida Gerhardi befinden sich in einer Sammlung von 64 Künstlerbriefen aus dem Nachlass von Gertrud Osthaus. Dieses neu entdeckte Material konnte das Hagener Osthaus-Archiv jetzt dank der großzügigen Unterstützung der Stiftung der Märkischen Bank erwerben. „Wir können anhand der Briefe noch besser nachvollziehen, wie dieses Netzwerk rund um Karl Ernst Osthaus gespannt war, wer mit wem an wen herangetreten ist, um dieses oder jenes Ziel zu verfolgen.“ Die Handschriften stammen von dem Ehepaar Rilke, Ernst Ludwig Kirchner, Henri Matisse und weiteren prägenden Figuren der klassischen Moderne.
Entdeckt hat das Konvolut der Kunsthistoriker Dr. Rainer Stamm, selbst gebürtiger Hagener, bei der Recherche für sein neues Buch „Karl Ernst und Gertrud Osthaus. Die Gründer des Folkwang-Museums und ihre Welt“ (C.H. Beck-Verlag). „Nach einem Teil der Briefe war ich seit Langem auf der Suche, denn aus dem Zusammenhang wusste man, dass es noch Briefe aus dem Nachlass von Karl Ernst Osthaus geben musste“, so Stamm. „Seit über zwanzig Jahren habe ich daher Kontakt mit verschiedenen Mitgliedern und vor allem Nachfahren der Familien Osthaus und Colsman gesucht und aufgebaut sowie um Vertrauen geworben. Und gerade in der Vorbereitung unseres Buches haben sich noch unerwartet Türen geöffnet und ich bin im Februar 2021 erst und endlich auf das Briefkonvolut gestoßen und durfte diese Materialien für die Erstellung des Buches ein Jahr ausleihen und nutzen, bevor es nun endlich in öffentliche Hände kommt und das Hagener Archiv komplettiert.“
Türöffnerin zur Pariser Avantgarde
Ida Gerhardi öffnet für Osthaus die Türen zum Atelier von Rodin, und sie vermittelt den Kauf des „Radrennfahrers“, jener skandalösen Skulptur von Maillol, die einen nackten Jüngling zeigt und auf Wunsch von Harry Graf Kessler angefertigt wurde. Osthaus kauft das zweite Exemplar. „Was den schönen Jungen anbelangt, von dem er einen Bronzeguss dort hatte, der aber mit allen dicken Nähten noch versehen war u. sehr bearbeitet werden musste, so bekommen Sie ihn in 2–3 Monaten“, berichtet Ida Gerhardi dem ungeduldigen Osthaus von ihrem Besuch in Maillols Werkstatt.
„Sie berät ihn, sie ist seine Kunstentdeckerin, sie äußert sich auch über Kunsthändler und Museumsdirektoren“, beschreibt Birgit Schulte das enge Verhältnis. „Die vier Briefe stammen aus den Jahren 1905, 1908 und 1909 und zeigen die Kontinuität der Freundschaft, Ida Gerhardi war eine begnadete Netzwerkerin. Osthaus hat ihrem Geschmack absolut vertraut.“
Besuch vom Kaiser
Die viel reisende und stets bestens informierte Ida Gerhardi hat regelmäßig Ausstellungen im Museum Folkwang in Hagen. 1909 schreibt sie über den erwarteten Besuch von Kaiser Wilhelm II. in Hagen, zu welchem Ereignis sie Osthaus Bilder schicken möchte, die er aufhängen soll. Sie bittet Gertrud: „Vielleicht, wenn der Kaiser hört, dass ich weiblich bin, in Westfalen und Paris lebe und nicht Mitglied der Secession, sieht er es an und dreht nicht den Rücken. Auf jeden Fall möchte ich doch als Hagener Kind dabei sein.“
Etwa 50 Forscher nutzen jährlich das Osthaus-Archiv. „Wir erhalten Anfragen von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, die zu Kulturthemen der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts forschen“, beschreibt Birgit Schulte die Bedeutung des Archivs, das mit rund 100.000 Autographen und Dokumenten eine wesentliche Quelle für die Kunst- und Kulturgeschichte der klassischen Moderne ist. Der neu erworbene Nachlass vertieft die Erkenntnisse – stadtgeschichtlich über die goldenen Jahre des Hagener Impulses ebenso wie weltgeschichtlich über die Entstehung der Moderne.
Ida Gerhardi bleibt Hagen und Osthaus über ihr Schaffen bis heute verbunden. Nach dem Verkauf der Sammlung nach Essen und den Bilderstürmen der Nationalsozialisten gehört ihr Porträt von Osthaus zu den wenigen Originalwerken aus der Sammlung Folkwang, die der Stadt Hagen geblieben sind.