Hagen. Vom Tschernobyl-Kind, das wieder ins Sauerland flüchtet, bis zum Spätaussiedler, der sich für Russland schämt: Warum uns die Ukraine so nah ist.

Dieser Krieg findet nicht irgendwo statt auf der Welt, sondern hier in Europa vor unserer Haustür. Dass Waldimir Putins Überfall auf die Ukraine die Menschen in Südwestfalen aber so sehr bewegt, hat sicherlich auch damit zu tun, dass es so viele direkte Verbindungen zwischen der Ukraine und unserer Region gibt, die vielen zuvor wohl gar nicht so bewusst waren, die nun aber zutage treten. Fünf Beispiele von Hilfe, Nähe und Betroffenheit.

1. Das Tschernobyl-Kind findet zum zweiten Mal Hilfe

Nadja Polonska (rechts) hat mir ihrer Familie Zuflucht bei den Müllers in Medebach gefunden.
Nadja Polonska (rechts) hat mir ihrer Familie Zuflucht bei den Müllers in Medebach gefunden. © WP | Benedikt Schülter

Sie ist angekommen. Endlich. Zum zweiten Mal wird Medelon bei Medebach im Sauerland zum Zufluchtsort für Nadja Polonska. Als ein so genanntes Tschernobyl-Kind kam sie nach der verheerenden Reaktorkatastrophe im Jahr 1986 in der Ukraine regelmäßig zu ihrer Pflegefamilie in das Sauerland. Josef und Maria Müller aus Medelon nahmen sie auf. Daraus wurde eine Freundschaft fürs Leben.

Heute lebt die 37-Jährige mit ihrer Familie in Kiew. Besser gesagt: Sie lebte dort bis vor wenigen Tagen. „Wir hätten niemals gedacht, dass Putin Kiew angreift“, sagt Nadja Polonska. Sie ist mit ihrer Mutter Ludmilla (71) und ihren Töchtern Victoria (13) und Varia (7) geflüchtet. Bei der Familie Müller im Sauerland finden sie nach Tagen der Not Sicherheit. „Wir haben unfassbares Glück gehabt“, sagt sie. Ihr Mann Dima (41) musste aber zurückbleiben. Wehrfähige Männer dürfen das Land nicht mehr verlassen. „Ich habe ihm verboten zu kämpfen, obwohl er eigentlich kämpfen will“, sagt sie.

2. Im Sauerland Evakuierungen in Kiew organisiert

Natalia Volk organisiert derzeit von Lennestadt aus Evakuierungen in Kiew.
Natalia Volk organisiert derzeit von Lennestadt aus Evakuierungen in Kiew. © Privat | Privat

Es ist so etwas wie ein Wink des Schicksals. Natalia Volk (57) wäre jetzt eigentlich in Kiew. Dort lebt die Unternehmerin, die vor einigen Wochen ein Hotel in Lennestadt gekauft hat, normalerweise. Dort ist sie auch Chefin eines Reisebus-Unternehmens, das auf Fahrten zwischen Deutschland und der Ukraine spezialisiert ist. Doch weil ihre Tochter vor vier Wochen in Deutschland ein Kind zur Welt gebracht hat, sind sie und ihre 80-jährige Mutter ins Sauerland gereist. Und hier haben sie den auch für sie überraschenden Kriegsausbruch erlebt. Von Lennestadt aus hilft sie nun den Menschen in ihrer Heimat.

Mit ihren Bussen versucht die Unternehmerin nun, Kiewer Bürger in Sicherheit zu bringen. „Wir evakuieren, solange es geht“, sagt die 57-Jährige. 20 Busse stehen noch in der ukrainischen Hauptstadt, um viele Menschen aus der Ukraine zu bringen. Das werde aber täglich schwerer. Aber: Es sei auch zuletzt wieder gelungen, zwei Busse, voll besetzt mit Frauen, Kindern und Senioren trotz Beschusses aus Kiew heraus und über ungefährlichere Routen an die polnische oder ungarische Grenze zu bringen.

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3. Schwelmer Basketballer an der polnischen Grenze

Omar Rahim an der  ukrainisch-polnischen Grenze. Hier hat er Hilfsgüter hingebracht.
Omar Rahim an der ukrainisch-polnischen Grenze. Hier hat er Hilfsgüter hingebracht. © Facebook | Screenshot

Sie gelten unter Basketball-Kennern als Legenden: Igor Pintschuk, langjähriger ehemaliger Center der Schwelmer Baskets, und Omar Rahim, Manager des Basketball-Zweitligisten. Jetzt sind die beiden unterwegs an die polnische Grenze, um Hilfsgüter dorthin zu transportieren – und Geflüchtete, die in den Westen wollen, mit hierhinzunehmen. Initiiert hat dies Ralf Stoffels, Chef des Unternehmens BIW in Schwelm, Präsident der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer (SIHK) sowie langjähriger Förderer der Schwelmer Baskets. Warum er gerade die beiden jetzt für die Hilfslieferung angefragt hat: Igor Pintschuk ist gebürtiger Ukrainer, beherrscht also die Sprache. Omar Rahims Mutter wiederum kommt aus Polen, er spricht polnisch. „Mit den beiden ist die Kommunikation vor Ort natürlich deutlich einfacher“, sagt Stoffels. Nach 1350 Kilometern in zwei Ford Transits sind die beiden Basketballer gestern angekommen. Am Mittwochnachmittag meldeten sie, dass die Hilfsgüter abgeladen und bereits die ersten sechs Geflüchteten mit im Auto sitzen. Eine erfolgreiche Mission.

4. Der Russland-Deutsche, der sich für Russland schämt

Jurij Propp bereitet eine Hilfslieferung in die Ukraine vor.
Jurij Propp bereitet eine Hilfslieferung in die Ukraine vor. © Peter Kehrle | peter kehrle

Bekannt ist er im Wittgensteiner Land und auch im Sauerland als Ausdauersportler. Als Ski-Langläufer, als Langstreckenläufer und als sechsmaliger Gewinner des „Siuerlänner Skiloaps“. Doch jetzt sorgt Jurij Propp, der in Westsibirien aufgewachsen ist und seit 30 Jahren in Deutschland lebt, der Ukraine-Krieg zutiefst. Allein an seiner Familiengeschichte kann man ablesen, wie unsinnig dieser Krieg ist, wie eng Russen und Ukrainer miteinander verbunden sind. Zwei seiner Brüder leben in Russland, ein weiterer in der Ukraine – genauso wie Propps Partnerin.

„Ich schäme mich für Russland, genauer gesagt für die russische Politik“, sagt Jurij Propp, der in Erndtebrück lebt. Eigentlich wollte er in diesen Tagen eine Urlaubsreise gen Osten unternehmen, jetzt wird sie zu einer Hilfsfahrt mit Evakuierung. Er hat mit Hilfe der Sauerländer Skilanglauf-Szene Hilfsgüter gesammelt, die er nun nach Erfurt bringt, wo sie für einen noch größeren Hilfstransport nach Lemberg in der Ukraine umgeladen werden. Propp wird mit dorthin fahren und auf dem Rückweg seine Freundin und seine Nichte mit nach Deutschland bringen – in Sicherheit.

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5. Die Busunternehmer, die sich auf den Weg machen

Busunternehmer Gustav Zacharias begleitet den Hilfstransport: „Ich bin froh, dabei zu sein und helfen zu können.“
Busunternehmer Gustav Zacharias begleitet den Hilfstransport: „Ich bin froh, dabei zu sein und helfen zu können.“ © WP | STEFAN KNEPPER

Sie stehen stellvertretend für andere Busunternehmen im Land, die ihr Geschäft in diesen Tagen hinten anstellen, um zu helfen: Lars Rosier aus Hemer, Martin Franke von Henneke-Tourismus aus Arnsberg und Gustav Zacharias von Zacharias-Reisen aus Freienohl haben vier Busse bereitgestellt, die am Freitagmorgen an die polnisch-ukrainische Grenze fahren werden. Eine bürgerschaftliche Initiative aus Arnsberg hat dazu den Anstoß gegeben. Gustav Zacharias wird selbst mit dabei sein. Die Dynamik sei gewaltig, sagt der Unternehmer. „Ich bin aber froh, dabei zu sein und helfen zu können.“ Das sei kein Aktionismus: Trotz der Kürze der Zeit stehen die Initiatoren im engen Austausch mit großen Hilfsorganisationen wie Malteser und Rotem Kreuz im polnischen Korczowa. Medikamente, Hygieneartikel und Lebensmittel für die Bedürftigen sollen auch tatsächlich da ankommen, wo sie benötigt werden. Und: Die vier Busse sollen auch bis zu 200 Kriegsflüchtlinge von der Grenze mit ins Sauerland bringen. Auch hier ist bereits vorgesorgt. Das Klinikum Hochsauerland wird bis zu 100 Appartements in einem derzeit leerstehenden Wohnheim einrichten. Hier können die Menschen auf der Flucht unterkommen – zumindest vorübergehend. Das nächste Ziel heißt: Sie in privaten Wohnungen unterzubringen.

>> INFO: Wie hilft man richtig?

  • Wie kann man am besten den Menschen in der Ukraine helfen? Das Deutsche Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI), das auch das „Deutsche Spendensiegel“ vergibt, gilt als Institution bei dieser Frage.
  • Von dort gibt es die klare Empfehlung: Lokale Sammlungen von Sachspenden sind nur sinnvoll, wenn tatsächlich vorab geklärt ist, wo genau die Spenden von den Helfern vor Ort gebraucht werden.
  • Sinnvoll sind in jedem Fall Geldspenden. Das DZI hat speziell für den Ukraine-Krieg eine Liste von zertifizierten und vertrauenswürdigen Organisationen erstellt. Zu finden ist sie unterwww.dzi.de