Hagen. In der Heimat müssen Geflüchtete ihre Homosexualität verstecken, im Asylverfahren sollen sie nun beweisen. Warum da Andreas Rau gefragt ist
Verständnis? Ja, das habe er natürlich, sagt Hamid. Verständnis, dass deutsche Behörden nachfragten. Dass nicht jeder einfach sagen könne, dass er homosexuell sei und dann in Deutschland bleiben könne. Aber dass er, der Tausende Kilometer geflüchtet ist, der seine Familie verlassen hat, um sein Leben als schwuler Mensch leben zu können, schwarz auf weiß bescheinigt bekam, nicht schwul zu sein, das hat den 25-Jährigen getroffen: „Dass die immer erst davon ausgehen, dass Du lügst, das finde ich nicht gut.“
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte nach einer persönlichen Anhörung, dem „Interview“, entschieden: Hamid sei nicht schwul und damit auch nicht der Gefahr der Verfolgung im Iran ausgesetzt. In dem Land also, in das seine ursprünglich aus Afghanistan stammende Familie als Mitglieder des Stammes der Hazaras schon aus Furcht vor Taliban und IS-Terroristen geflohen war. Und aus dem er sich im Jahr 2015 Richtung Deutschland aufmachte, als er – mit 20 – zur Hochzeit mit einer Frau gedrängt werden sollte und seine Homosexualität, die im Iran mit Gefängnis oder dem Tode bestraft werden kann, aufzufliegen drohte.
Vor Gericht wird er gehört
Andreas Rau (54) kennt diese Fälle, bei denen es immer um die Kernfrage geht: Wie schwul muss man sich eigentlich geben, um in Deutschland bleiben zu dürfen? Und: Woran bitteschön macht man das fest?
Der Sozialpädagoge leitet die Aids-Hilfe in Hagen, unter deren Dach sich eine Gruppe von schwulen, lesbischen und transsexuellen Flüchtlingen gebildet hat, die sich hier treffen, kochen, tanzen, sich gegenseitig unterstützen. Hamid gehört zu ihnen. Und Andreas Rau hat auch ihn begleitet auf dem Weg durch die Behörden-Schlangen und durch die Justiz, um das zu beweisen, was Hamid spätestens weiß, seit er Jugendlicher ist: Er ist schwul, steht nur auf Männer.
Bei Behörden als Gesprächspartner gefragt
Rau ist kein Gutachter. „Ich bin auch kein Wissenschaftler“, sagt er. Er wird aber gehört, Gerichte und Behörden lassen ihn zu Wort kommen, bitten ihn um eine Einschätzung.
„Das Problem ist, dass viele homosexuelle Geflüchtete nicht den Klischees entsprechen, die es hier oft gibt“, sagt er. „Die sind meist nicht in der Schwulen-Szene unterwegs, haben kein schrilles Outfit oder ‚tuntiges‘ Auftreten. Und ihr erstes Ziel hier in Deutschland ist auch nicht, zum Christopher-Street-Day zu gehen.“
Angst vor gesellschaftlicher Ächtung
Die allermeisten hätten über Jahre ihre gleichgeschlechtliche Neigung verbergen müssen, aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung, dem Verstoßenwerden aus dem Familienverbund, vor drakonischen Strafen oder gar dem Tod. Und auch in Deutschland in den Flüchtlingsunterkünften könne es in dem dortigen Umfeld gefährlich werden, sich als Homosexueller zu outen. „Deshalb ist da oft wenig oder nichts, das auf den ersten Blick das Schwulsein belegen könnte“, sagt Andreas Rau.
Er hat inzwischen viele Geflüchtete begleitet bei den oft stundenlangen BAMF-Interviews, bei denen so genannte Entscheider die Asylanträge hinterfragen. Und bei Verwaltungsgerichten, bei denen dann oft die Ablehnungen landen, wenn die Betroffenen denn tatsächlich dagegen vorgehen wollen.
Andreas Rau hat die unterschiedlichsten Erfahrungen gemacht. Entscheider, die unverschämte, viel zu intime Fragen gestellt hätten. Und sich auch an abstrusen Details abarbeiten würden.
„Zum Beispiel in dem einen Fall, als es um die Schwiegermutter ging“, erinnert er sich. Der Entscheider habe es als vollständig unglaubwürdig gewertet, dass der Geflüchtete den Namen der Mutter seines Freundes nicht wisse. „Dass viele Betroffene mit ihren Familien den Kontakt abgebrochen haben, weil die ihre Homosexualität ablehnen und somit die Schwiegermutter überhaupt keine Rolle spielt, das hat der Entscheider als Gedanken gar nicht zugelassen.“ Rau hat aber auch genauso verständnisvolle Richterinnen und Richter kennengelernt, die einfühlsam fragen, die sich dem Thema Homosexualität sensibel nähern.
Silke Camen ist eine Richterin, die am Verwaltungsgericht Arnsberg in ihrem Alltag damit zu tun hat. Tausende Fälle sind dort seit dem Höhepunkt der Fluchtwelle 2015 bearbeitet worden. Inzwischen ist zumindest der Neueingang rückläufig. Silke Camen ist Vorsitzende Richterin einer Kammer, die sich mit Asylverfahren beschäftigt. Wie die anderen Kammern auch, ist diese auf gewisse Länder spezialisiert: Äthiopien, Bulgarien, Eritrea und der Iran sind es hier.
Keine Checkliste für Richter
Die Frage, ob die Homosexualität eines Klägers entscheidend für den Asylantrag ist, stellt sich oft. Aber wie bereitet man sich darauf vor? „Eine Checkliste gibt es nicht“, sagt Silke Camen. Man richte sich natürlich nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der Grenzen gezogen hatte, wie intim Fragen sein dürfen.
Man höre auch Menschen aus dem Umfeld wie Andreas Rau, die eine Einschätzung geben könnten. „Das sind dann aber keine Zeugen wie in einem Strafverfahren“, so die Juristin. „Sie werden nur für ein Gesamtbild gehört. Am Ende ist es allein die richterliche Entscheidung, die Frage der Homosexualität zu bewerten. Die nimmt einem keiner ab.“
Keine Gefahr des Vorgaukelns?
Und wie geht es Andreas Rau dabei? Auch wenn er letztlich nicht entscheidet: Hat er nicht Bedenken, dass tatsächlich das Schwulsein nur vorgegaukelt wird, um in Deutschland bleiben zu können? „Nein“, sagt der Sozialpädagoge. „Wer zu uns regelmäßig in die Gruppe kommt, der hat sich das gut überlegt. Wer aus einem muslimischen Umfeld kommt, in dem Homosexualität weitgehend geächtet wird, in dem man den Bruch mit Familien und Freunden riskiert, der sagt nicht leichtfertig: Ich bin schwul.“
Und letztlich, so Rau, setze er auch auf seine eigene Erfahrung: „Ich bin 54 Jahre alt und seit 54 Jahren schwul. Ich traue mir schon zu, das einzuschätzen.“
Bei Hamid, der seinen richtigen Namen nicht öffentlich nennen will, weil er Repressionen für seine Familie im Iran fürchtet, lag Rau offensichtlich auch richtig: Sein Asylantrag wurde doch noch anerkannt und somit auch seine Homosexualität. „Ich bin froh, dass wir mit der Gruppe bei der Aids-Hilfe jemanden haben, der uns glaubt und zuhört. Ich habe viel gelernt“, ist er dankbar für die Unterstützung.
Für ihn ist es wie eine Befreiung.