Hagen. Stefan Temmingh gilt derzeit als bester Blockflöten-Virtuose der Welt. In Hagen verblüfft und begeistert er das Publikum mit seinem Spiel.

Die Blockflöte gilt gemeinhin als Nervenprobe für Kinder und Eltern. Als professionelles Musikinstrument wird sie im Vergleich zu Trompete oder Violine nicht besonders ernst genommen. Im Barockzeitalter hingegen hatte jeder Gentlemen eine Blockflöte in der Tasche. Seit der Wiederentdeckung der Alten Musik erlebt die Flauto dolce eine Renaissance – ein Verdienst von Musikern wie Stefan Temmingh, einem der prominentesten und derzeit besten Virtuosen in diesem Fach. Zusammen mit dem Philharmonischen Orchester Hagen und dem Dirigenten Werner Ehrhardt hat Temmingh jetzt demonstriert, wie das Barockzeitalter vor lauter Musizierlust die Grenzen des Spielbaren austestet.

Die Erfindung der Virtuosität

Die Instrumentalmusik hat einige Jahrhunderte gebraucht, um sich aus der Bindung an Gesang und Tanz zu befreien. Dann gibt es kein Halten mehr. Die neue Gattung des Solokonzerts wird erfunden. Antonio Vivaldi, der ungewöhnliche Priester-Komponist, hat seine extrem anspruchsvollen Flötenkonzerte für seine Schülerinnen im Waisenhaus in Venedig geschrieben; die Waisenmädchen in Vivaldis Orchester müssen sensationell gespielt haben.

Wenn Stefan Temmingh in Hagen bei Vivaldis C-Dur-Konzert (RV443) sein Instrument an die Lippen setzt, geht eine Schockwelle durch das Publikum. So etwas ist menschenmöglich? Mit angehaltenem Atem horchen die Zuhörer, wie der 43-Jährige die rasend schnellen Läufe meistert, die halsbrecherischen Verzierungen und Akkordbrechungen, wie er aus den jeweiligen Fundamenttönen der Triller Zweistimmigkeit generiert.

Der langsame Satz zeigt dann, warum die Blockflöte Flauto dolce heißt, die süße Flöte. Wie aus einem Atemzug gestaltet Temmingh die Melodielinie des schönen Largos, das Publikum lauscht restlos verzaubert; die Töne wirken so organisch und selbstvergessen und sind doch äußerst bewusst gestaltet – ein schöner Beweis dafür, dass Freiheit aus der Kontrolle kommt.

Workshops mit den Philharmonikern

Stefan Temmingh ist nicht der einzige berühmte Musiker im Programm. Dirigent und Geiger Werner Ehrhardt ist Gründer und langjähriger Leiter des Alte-Musik-Ensembles Concerto Köln. Er und Temmingh haben während des Lockdowns mehrere Workshops bei den Hagener Philharmonikern gehalten. Alte Musik ist gleichsam solistisch, sie fördert ein Orchester.

Werner Ehrhardt ist es wichtig, das Abenteuer der stilistischen Entwicklung vom Barock zur Frühklassik herauszuarbeiten: Johann Sebastian Bachs Ouvertüre der Orchestersuite Nr. 1 (BWV 1066) mit ihren virtuosen Fagottpartien; Georg Philipp Telemanns Alster-Suite mit ihren humoristischen Lautmalereien. Vier Hörner werden hier gebraucht – das Werk ist repräsentativ, man will schon damals zeigen, was man sich leisten kann.

Johann Christian Bach und seine Kollegen entdecken dann die Dynamik. Carl Stamitz erfindet das Crescendo, die Mannheimer Raketen, jene himmelstürmenden Orchesterwalzen, die Vater und Sohn Mozart so beeindrucken. Die Hagener Philharmoniker erkunden diesen musikalischen Archipel in der Ouvertüre zur Oper „Il tutore e la pupilla“ und der Sinfonie d-Moll mit ebenso viel Feingefühl wie Freude; das vibratolose Spiel ist für die Streicher spannend; der Klang wirkt damit transparent und leuchtend.

Blockflöten-Szene in der Region

Bei Giuseppe Sammartinis Blockflötenkonzert F-Dur geht es nicht mehr nur um virtuose Reifensprünge. Nun kommt die Emotion ins Spiel, die empfindsamen Gefühle. Stefan Temmingh macht den langsamen Satz zum Lamento mit vielen Seufzern im Siciliano-Rhythmus, das wie weiland Orpheus Steine zum Weinen bringen könnte. Als Zugabe flötet/haucht/summt/ der Südafrikaner ein Lied der großen Sängerin Miriam Makeba.

Der Beifall ist gewaltig. Auch in der Region gibt es eine engagierte Blockflöten- und Alte-Musik-Szene, angebunden unter anderen an Early Music im Ibach-Haus in Schwelm, wo sich die Blockflötisten der Region samstags zum Ensemble-Spieltag treffen.

Bei Frauen schätzte man es im Barock übrigens nicht, dass sie die Flöte zwischen die Lippen nahmen, bliesen und den Ton mit diversen Zungentechniken formten. Die Gründe müssen hier nicht näher erläutert werden. Männer und Blockflöte sind hingegen so intensiv verbunden, dass sogar die Malerei das Motiv des Flötenspielers in zahlreichen Meisterwerken verewigte.