Eslohe. Julia und Ulrich Rützel wohnen in einer alten Jagdvilla im Sauerland. Das Gebäude ist rund wie eine Hobbithöhle. Wir dürfen zum Hausbesuch.
In Hamburg wurde Ulrich Rützel (76) zu Partys mit den Rolling Stones eingeladen. Er zog durch die Clubs, immer auf der Suche nach neuen Talenten, Barry White und Genesis hatte er als Labelmanager der Schallplattenfirma Phonogram unter seinen Fittichen. Doch eines Tages waren der Musikproduzent und seine Frau Julia (76) des Großstadtlebens müde. Sie träumten von einem Haus im Grünen, im Sauerland.
Eine Freundin aus Meschede schickte die Mittwochs- und Samstagsausgaben der WESTFALENPOST nach Hamburg, damit Rützels die Immobilienanzeigen studieren konnten. So hat das Ehepaar über die Zeitung in Wenholthausen sein Zuhause gefunden, ein ganz und gar rundes Gebäude mit unverbaubarer Sicht in alle vier Himmelsrichtungen: die frühere Jagdvilla der Unternehmerfamilie Honsel aus Meschede.
Fast null Dezibel
„Alles still. Wirklich fast null Dezibel“, konstatiert Hausherr Rützel mit geschultem Ohr. Die Ruhe, die Natur, das waren die Gründe, warum sich das Ehepaar 1992 für das außergewöhnliche Wohnhaus entschieden hat – und der viele Platz natürlich. In den früheren Bediensteten- und Funktionszimmern im Erdgeschoss richtete Ulrich Rützel seinen 1981 in Hamburg gegründeten Erdenklang-Musikverlag ein. „Ob ich von Eslohe in die Welt fliege oder von Hamburg, das ist wurscht. Solange man keine Popmusik macht, ist es egal, wo man als Produzent sitzt. Und heute, wo alles per Internet geht, ist es sowieso egal.“ Heimat bedeutet die Abwesenheit von Hektik und Lärm: „Wir haben es richtig genossen hier, keine vollgestopften S-Bahnen mehr, diese Ruhe“, bekennt Julia Rützel.
Ins Sauerland sind die weltläufigen Hamburger nicht durch Zufall gekommen. Städtebauingenieurin Julia Rützel ist im Münsterland aufgewachsen, Ulrich Rützel, geboren in Gelsenkirchen-Buer, hat Verwandtschaft in Obermarsberg, wo er sich als blasses Stadtkind mit großer Herzlichkeit rote Backen anessen durfte. „Wir waren als Kinder immer im Sauerland. Wir haben hauptsächlich im Sauerland unser Haus gesucht. Den Menschenschlag kannten wir.“
Märchenhafter Park
Versteckt zwischen Bäumen liegt Haus Rützel, das „Erdenklang-Haus“, auf einem Hügel am Waldesrand. Den großen Park hat das Ehepaar bewusst und planvoll verwildern lassen. Märchenhaft verwunschene Wege tun sich durch Rhododendrontunnel auf, der frühere Swimmingpool ist nun ein Paradies für Schwanzlurche. „Wenn der Rhododendron blüht, dann ist das hier ein regelrechter Blütenrausch.“
Das Haus wurde 1934 errichtet, in einem anthroposophisch angehauchten Stil, über den Architekten ist nichts bekannt. Zwei Loggien und zwei Terrassen schmiegen sich in alle vier Himmelsrichtungen an die runde Außenhülle. Nichts verstellt den freien Blick. Das Gebäude ist von außen rund, innen sind die Zimmer ungerade mehreckig. „Einen großen Schrank können Sie hier nirgends aufstellen“, sagt Julia Rützel. „Aber da wir sowieso keine Liebhaber von wuchtigen Möbeln sind, war das für uns kein Problem.“
Hocherrschaftlicher Alltag
Als Rützels einzogen, fanden sie allenthalben noch die Spuren des früheren hochherrschaftlichen Alltags. Mehrere Dienstboten waren in der Villa angestellt, das Essen wurde mit weißen Handschuhen serviert.
Das ehemalige Herrenzimmer mit dem Kamin dient heute auch als Musikzimmer. Klavier spielt Ulrich Rützel nicht mehr so oft, aber sein Saxophon packt er jeden Tag aus. Rützel kommt vom Jazz, er ist ein Pionier der elektronischen Musik, Mitbegründer der Ars Electronica. Der Name „Erdenklang“ seines Plattenlabels und Verlages bezieht sich darauf, dass man, seit 1979 der erste Musikcomputer „Fairlight CMI“ mit der Sampling-Technik auf den Markt kam, mit allen Klängen der Erde Musik machen kann. Julia Rützel erinnert sich: „Als wir frisch verheiratet waren, vor 51 Jahren, musste ich mich schwer an seine Musik gewöhnen. Da hat Ulli Freejazz gemacht und wollte, dass ich zu bestimmten Takten den Staubsauger anstelle. Rhythmus, Musik entstehen aus den einfachsten Sachen. Es steckt ein Lied in allen Dingen.“
In der Musikindustrie sind die wilden Partys, die bunten Vögel und die schrillen Begegnungen längst Geschichte. Rützel: „Die Popmusik ist heute nur noch ein Abbild dessen, was sowieso da ist. Das wird von den Algorithmen abgegriffen. Jeder guckt, was macht der andere.“
Haus Rützel überrascht und erfreut seine Bewohner seit 1992 mit den Ideen des Architekten. Die Kastenfenster gehören dazu. Julia Rützel: „Zum Reinigen sind die furchtbar, aber für die Wärmeisolierung sind sie toll.“ Oder die schöne Holzstiege: „Was mich begeistert, ist das ganz simple Treppenhaus mit dem Oberlicht. Das Licht kommt zwar von oben, aber nicht vom Hausdach, sondern vom Dach des Anbaus, das ist traumhaft gelöst“, so die Ingenieurin.
Eine Küche aus Blech
Zu den architekturhistorischen Höhepunkten des Hauses gehört die Küche aus Blech, die der Erfinder Werner Sell aus Dillenburg ab 1938 baute, für Flugzeuge, Schiffe, Eisenbahnen und seltener für Wohnhäuser. Julia Rützel: „Die Küche besteht aus einzelnen Modulen. Sie befand sich früher im Erdgeschoss im Funktionsbereich, mit Speiseaufzug. Wir haben sie nach oben geholt und in kleinerer Form neu zusammengesetzt. Ich wusste genau, wie ich das haben wollte.“
Julia und Ulrich Rützel sind gut angekommen im Sauerland und in ihrem Haus. Zwölf Jahre lang war Rützel nach dem Verkauf seiner Firma Ende 2005 für den Hospiz- und Palliativdienst Meschede ehrenamtlich aktiv, heute organisiert er Ausstellungen an der Schnittstelle von digitaler Kunst und Multimedia zusammen mit der Fachhochschule Südwestfalen. „Mein Schwerpunkt als Musikproduzent war das Finden und die Förderung von begabten und interessanten Künstlern. Das ist auch jetzt im Kunstbereich mein Ding, weil ich eins gut kann: Talente entdecken und nach vorne bringen.“ Im nächsten Jahr wird Rützel in der Fachhochschule Meschede das Projekt „Meta-Trips durch Korridore“ realisieren.
Keine Lichtverschmutzung
Manchmal steht Julia Rützel nachts am Fenster und blickt hinaus. Berge, Wolken, Mondlicht, Himmel, Sternenzelt, Unendlichkeit. Und dann wieder ein Reh auf der Wiese im Morgengrauen. Lichtverschmutzung gibt es nicht. Ulrich Rützel genießt es, an sternklaren Abenden vom Teich aus zu beobachten, was sich am Firmament tut. Tagsüber bildet die Aussicht von den Fenstern und Balkonen eine nie versiegende Quelle der Freude für das Ehepaar. Ulrich Rützel: „Wir genießen das Haus. Aber man ist natürlich privilegiert. Wir haben Glück im Leben, das fühlen wir hier voller Demut.“