Drolshagen/Eslohe. Viele Medien berichten über den Altar von Thomas Jessen für Drolshagen. Im Internet wird das Bild respektlos kommentiert. Woher kommt der Hass?

Am Sonntag Trinitatis um 13 Uhr steht die Boulevardpresse vor der Tür von Pfarrer Markus Leber in Drolshagen. Der Pastor soll erklären, wie es dazu kommt, dass in St. Clemens seit Pfingstmontag ein Marienaltar hängt, wo die Muttergottes Jeans trägt. Tritt die Zeitung mit den vier Buchstaben neuerdings als Wächterin von Anstand und Sitte in der Kirchenkunst auf?

Wer bei dieser Frage stutzt, wird wenig überrascht sein, dass die Diskussion um das Retabel des Esloher Künstlers Thomas Jessen hauptsächlich in den sozialen Medien im Internet geführt wird. Internettrolle vereinen sich dabei mit Gegnern der Frauenemanzipation, die fürchten, dass eine Maria in Jeans nicht demütig genug ist. Tatsächlich zeigt die Debatte, dass unsere Gesellschaft, die mit Trillionen von digitalen Bildern überflutet wird, den Umgang mit dem Medium Bild verlernt hat. Ein Bild als Kunstwerk ist mehr als die Abbildung eines Gegenstandes. Es spricht den Betrachter aktiv an.

Resonanzraum des Glaubens

Kirchen sind Resonanzräume des Glaubens. Im Zusammenklang mit der Liturgie setzen sie seit der Höhlenmalerei der Urchristen Kunst ein. Alle Bilder von der Gottesmutter, der Passion oder den Heiligen sind zum Zeitpunkt ihres Entstehens modern. Denn jeder Kirchenkünstler malt über den Glauben in seiner Zeit. Ein Kunstwerk will nicht etwas Vorhandenes kopieren, sondern verwandelt ein Thema, erschafft etwas Neues. Im Unterschied zur Dekoration hat die Kunst den Auftrag, Gewissheiten in Frage zu stellen, zum Nachdenken anzuregen und vertraute Sachverhalte neu zu sehen.

Der Maler Thomas Jessen aus Eslohe ist ein international geehrter Künstler. Im Paderborner Dom gestaltete er das Atrium-Portal, im Bischofshaus in Speyer einen Kreuzweg. Der Katholik Jessen hat viele Bilder und Fenster für Kirchen entworfen, unter anderem für St. Pantaleon in Köln, St. Norbert in Werl, St. Magdalena in Dortmund-Lütgendortmund und für das rekonstruierte historische Schmittmann-Retabel in St. Vincenz in Menden.

Übersetzung in die Jetztzeit

In Menden zum Beispiel zeigt Jessen nicht das übliche Bild einer Kreuzigung, sondern ein Bild der Mendener Kreuztracht. Damit übersetzt er das biblische Geschehen in die Jetztzeit. „Eine historische Darstellung nimmt dem Thema die Schärfe“, davon ist Thomas Jessen überzeugt. Deshalb ist auch der Marienaltar in Drolshagen die Übersetzung einer Legende aus dem Marienleben in die Gegenwart. Erzählt wird die Geschichte von der Gürtelspende; Maria reicht dem Apostel Thomas ihren Gürtel. Thomas, ein Selbstporträt des Künstlers, steht wie ein Gleichnis für die zweifelnden und fragenden, in ihrer spirituellen Bedürftigkeit gleichsam nackten Christen der Gegenwart, denen Maria Beistand und Hilfe anbietet.

Eigentlich sollte eine solche Darstellung selbst den Frömmsten beglücken. Aber: „Das Bild ist eine Beleidigung für jeden gläubigen Christ“, kommentiert ein Leser aus Freiburg die Berichterstattung des Portals domradio.de. Ein weiterer Leser aus Bad Salzgitter fällt das Urteil: „abartig“. Beide argumentieren auf der Basis eines briefmarkengroßen Fotos im Internet.

Tafelbild wird instrumentalisiert

Bei keinem Jessen-Kunstwerk gab es bisher einen derartigen Internet-Hass wie beim Marienaltar für St. Clemens. Das mag auch daran liegen, dass die Diskussion jenseits von Drolshagen zusehends instrumentalisiert wird. Gegner von mehr Frauenrechten in der Kirche und Menschen, die die Gesellschaft ablehnen, empören sich besonders laut. Das Bild steht als moderne Kunst offenbar stellvertretend für die Kritik an einer sich verändernden Gesellschaft, die dem Einzelnen angeblich von oben nach unten Dinge aufdrückt, die er nicht will.

Ein solches Vorurteil deckt sich jedoch im Fall Drolshagen nicht mit den Tatsachen. Das Jessen-Retabel ist der Kirchengemeinde nicht top down verordnet worden. Die Gemeinde hat es auf Anregung von Pfarrer Markus Leber in Auftrag gegeben.

Interessant ist, wie sich die Kritik ausgerechnet an der Kleidung der Muttergottes festmacht. Obwohl die Madonna die meist dargestellte Protagonistin der Kunstgeschichte ist, gibt es Katholiken, die nur ein einziges Marienbild akzeptieren: rotes Kleid, blauer Mantel, entrückter Gesichtsausdruck. Sie blenden aus, dass jede künstlerisch gestaltete Gottesmutter eine zeitgemäß gekleidete Frau ist. Eine Madonna in Jeans bringt ihre Vorstellung von einer dienenden Rolle der Frau ins Wanken.

Erste Erfahrung mit Kunst

Der Marienaltar von Thomas Jessen ist für viele Besucher in St. Clemens die erste Gelegenheit, überhaupt mit moderner Kunst in Kontakt zu kommen. Dass ein gutes Kunstwerk den Betrachter immer anrührt und dass gute Kunst immer Fragen aufwirft, ist für viele der Besucher eine neue Erfahrung. Wer ein Kunstwerk nicht auf den ersten Blick versteht, steht ja nicht als der Depp da. Er ist vielmehr ein Suchender, weil Kunst erforscht werden will.

Jessens Marienaltar funktioniert auf mehreren Bedeutungs- und Zeitebenen, die entschlüsselt werden wollen. Das ist ein aktiver Prozess des Betrachtens. Der Betrachter wird durch die Kunst ermächtigt. Er wird aufgefordert, in die Erzählung des Bildes einzutreten und sich ein eigenes Bild zu machen.

Die im Internet beschworene Spaltung der St. Clemens-Gemeinde durch den Flügelaltar kann Markus Leber nicht bestätigen. „Viele sind dankbar, dass man ihnen das Bild erklärt. Viele finden nicht sofort einen Zugang. Aber von einer großen Spaltung in der Gemeinde kann ich aktuell noch nichts spüren. Natürlich: Manche Rückmeldungen sind ganz begeistert - andere haben eher das große Achselzucken“, sagt der Pfarrer.

Viele Besucher sind sehr angetan

Die hasserfüllten Facebook-Kommentare liest der Geistliche nicht, das halten seine Nerven nicht aus. Sechs Interview musste Leber bisher geben, die Tagesschau hat ebenso berichtet wie die Zeit. Zwei böse anonyme Anrufe hat der Pfarrer erhalten, einen bösen Brief und zwei böse Mails. Dagegen steht ein ganzer Schwung von Mails und Briefen, deren Verfasser sehr angetan sind und sich bedanken.

Dass die Kirchen leer sind, trifft auf St. Clemens jedenfalls nicht zu. Täglich kommen Besucher, um das neue Retabel zu sehen. Die Kunst wird damit zum Türöffner, sich mit den Fragen des Glaubens zu beschäftigen. Viele erfassen das Werk spontan als das, was es ist: Ein Altar für gegenwärtige Christen - oder wie eine Drolshagenerin sagte: Das Bild zeigt, wie wir alle an unserem Glauben mitbauen.