Hagen. Gesangsvereine verlieren während der Corona-Pandemie rasant an Mitgliedern. Arzt Johannes Graulich warnt vor den Folgen des Chorsterbens.
Gesangvereine verlieren während der Corona-Pandemie rasant an Mitgliedern. Jeder achte der 500 befragten Kinder- und Jugendchöre in Deutschland hat bereits aufgegeben. So lautet das Ergebnis einer Studie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und des Stuttgarter Carus-Verlages. „Ich habe die Sorge, dass wegen der Pandemie eine ganze Generation von Kindern das Singen im Chor lebenslang nicht mehr kennenlernen wird“, fürchtet Dr. Johannes Graulich. Graulich (53) ist Carus-Verleger und Kinderarzt; derzeit arbeitet er auch als Impfarzt im Stuttgarter Impfzentrum.
Sie beobachten einen Strukturverfall gerade bei den Nachwuchschören.
Dr. Johannes Graulich: Erwachsenenchöre sind über Jahrzehnte gewachsen, die lösen sich nicht so schnell auf. Aber bei Kinder- und Jugendchören haben Sie immer eine gewisse Fluktuation, weil die Kinder in andere Schulstufen wechseln oder den Abschluss machen. Wenn dort 18 Monate keine Zugänge sind, fängt so ein Chor wieder bei Null an.
Warum sind Sie so besorgt wegen der Kinderchöre?
Als Kinderarzt bin ich der Überzeugung, dass Musik und das eigene Singen jemanden das ganze Leben lang positiv begleiten kann. Singen mit anderen, in der Gruppe, bei den Proben, im Konzert, dabei können Kinder viel lernen. Ich möchte, dass möglichst viele Kinder diese Erfahrung machen können. Wir wissen ja, dass Menschen, die im Chor singen, zu fast 100 Prozent schon mit 18 Jahren im Chor gesungen haben. Ich fürchte, dass der Musikunterricht an vielen Stellen nicht das erste Fach sein wird, wenn wir zum Präsenzunterricht zurückkehren. Da wird man vielfach sagen: Machen wir lieber noch eine Stunde Chemie. Die Kinder haben nicht nur ein Problem mit dem Lehrstoff, sondern sie haben auch anderthalb schwierige Jahre hinter sich und müssen sich seelisch regenerieren.
Singen draußen ist nicht die Lösung
Warum ist die Situation der Chöre für Sie so alarmierend? Die Sportvereine haben doch ähnliche Probleme?
Viele Sportarten können draußen praktiziert werden, so dass die Sportvereine relativ schnell wieder in den Tritt kommen können. Aber das Chorsingen draußen hat sich nicht als Lösung entpuppt. In Kombination mit den strengen Hygieneregeln drinnen wird das dazu führen, dass Chöre erst sehr viel später wieder arbeiten können.
Wird es dieses Jahr Weihnachtsoratorien geben?
Viele Chöre befinden sich derzeit in einer Art Schockstarre, weil sie überhaupt keine Planungssicherheit haben. Wenn ein Chor Weihnachten 2021 ein Konzert geben will, muss er jetzt mit der Vorbereitung beginnen. Aber wer weiß denn jetzt, wie viel Abstand die Sänger im Dezember halten müssen? Davon hängen die Stücke ab, die geprobt werden müssen. Und wie viele Besucher in eine Kirche oder einen Saal kommen dürfen? Das ist alles ein Vabanque-Spiel.
Anderes Körpergefühl
Keine Chorproben, keine Konzerte. Was hat sich noch durch Corona geändert?
Wir haben in den vergangenen 18 Monaten ein anderes Körpergefühl entwickelt. Früher standen Chorsänger ja oft extrem eng zusammen, heute haben wir uns an die Distanz, den Abstand gewöhnt, man will den Leuten nicht mehr zu nahe kommen, das merke ich auch selbst, wenn ich als Impfarzt Dienst habe. Das Gefühl für Abstand hat sich verändert, damit müssen die Chöre umgehen. Ich hoffe sehr, dass wir uns das, was uns die Pandemie an Nähe genommen hat, wieder zurückholen können.
Sie meinen dieses spezielle Chor-Glücksgefühl, das Aufgehen in Harmonie und Gemeinschaft beim Singen?
Das Singen steht jetzt wegen der Aerosolbildung unter Generalverdacht. Aber gemeinsam singen, gemeinsam atmen, Musik gestalten, das ist so wertvoll, das muss wieder auf die Beine kommen. Es gibt viele Studien zu den Themen Mental Health und Singen, die belegen, dass Singen gesundheitlich förderlich ist, für die seelische Gesundheit, für das Immunsystem, für den Zusammenhalt. Es gibt vier Millionen Chorsänger in Deutschland, die Chorverbände sind mit die größten Verbände in Deutschland. Singen hat alles, was man gebraucht hätte, um gut durch die Krise zu kommen.
Was wünschen Sie sich?
Ein wesentliches Ergebnis der Studie lautet: Die Chöre sind in Not. Wenn man das Weltkulturerbe Chorgesang erhalten will, dann muss jetzt etwas passieren, dann braucht es finanzielle und strukturelle Unterstützung seitens der Politik.
Mehr als 4000 Chöre befragt
Mehr als 4000 Chöre aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben im März 2021 an einer Befragung zu den Auswirkungen der Pandemie auf ihre Aktivitäten und Strukturen teilgenommen. Die Ergebnisse gibt es unter: www.nmz.de/choco.
Weltweit wurde in vielen Studien beschrieben, dass die Pandemie eine erhebliche psychische Belastungssituation für Erwachsene wie Kinder darstellt. Für eine rasche und erfolgreiche Erholung könnte das gemeinschaftliche Singen wegen seiner beschriebenen positiven Wirkung auf die psychische Verfassung für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung ein wichtiger Faktor sein, so die Autoren.