Hagen. Viel Polizei, schwere Vorwürfe: das Verbot der Bandidos in Hagen kommt trotzdem jetzt überraschend. Die Gründe und was der Rocker-Anwalt sagt.
Einige der Bandidos-Mitglieder kamen geradezu in Terminnot mit der Staatsgewalt. Denn obwohl am Donnerstag die Polizei schon morgens um sechs Uhr an 28 unterschiedlichen Orten in NRW aufmarschierte, um ein Verbot des Rocker-Chapters in Hagen durchzusetzen, waren einige der Bandidos bereits quasi auf dem Sprung: Um 9.30 Uhr mussten sie am Landgericht Hagen Platz auf der Anklagebank nehmen. Denn dort geht es weiter im Prozess um versuchten Mord und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.
Doch gerade diese „Termin-Enge“ zeigt, warum Innenminister Herbert Reul (CDU) nun durchgegriffen hat: Er hat den „Bandidos Motorcycleclub Hohenlimburg/Witten“ mit 20 Mitgliedern und dessen Unterorganisation „Los Compradres Hagen“ mit weiteren acht Mitgliedern verboten. Auf deren Konto gehe versuchter Mord, gefährliche Körperverletzung und Verstöße gegen das Waffengesetz: „Es gab Schießereien auf offener Straße“, sagt Reul.
488 Polizeibeamte, darunter Kräfte der Spezialeinheiten und der Bereitschaftspolizei, waren an 28 Orten in Hagen, Dortmund, Iserlohn, Altena, Schwerte und Lüdenscheid im Einsatz. Das Ziel: Den 28 Mitgliedern das Vereinsverbot persönlich zuzustellen (in zwei Fällen sogar in der Justizvollzugsanstalt) und Vermögenswerte des Vereins zu sichern. 19 Motorräder der Marke Harley Davidson wurden unter anderem sichergestellt, daneben auch 18 Kutten mit Bandidos-Abzeichen, ein Schlagring, Vereins-Dokumente und geringe Mengen an Drogen.
Innenminister Reul: „Rocker spielen mit dem Leben unschuldiger Menschen“
Der Innenminister zeigte sich am Donnerstag entschlossen: „Die Rocker spielen mit dem Leben von unschuldigen Menschen und bedrohen die öffentliche Sicherheit. Es ist die Pflicht des Staates, hier durchzugreifen und die Bürgerinnen und Bürger zu schützen.“ Aber warum greift er gerade jetzt durch, an einem April-Tag im Jahr 2021? Ja, die Bandidos waren auch zuletzt weiter präsent im Hagener Stadtbild. Mit ihren Motorrädern brausten sie gerne mit ohrenbetäubendem Lärm durch die Häuserschluchten. Aus der Bandidos-Mitgliedschaft machten sie dabei keinen Hehl: Kutten oder Pullover mit den großen Buchstaben BMC (Bandidos Motorcycle Club) wurden zur Schau getragen. Straftaten, zumindest massive, waren zuletzt jedoch nicht aktenkundig geworden.
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Allerdings: Das jetzt ausgesprochene Verbot hat seinen Grund in der heißen Phase des Hagener Rockerkriegs im Jahr 2018. Die Bandidos hatten versucht mit einem Chapter dort Fuß zu fassen. Ausgerechnet in Hagen, der „Hauptstadt“ der konkurrierenden Freeway Riders, die 1974 hier ihren Rockerclub gegründet hatten. Erst kam es nur zu Scharmützeln und öffentlichen Machtgebärden, dann aber zu blutigen Auseinandersetzungen auf offener Straße. Was den Konflikt verschärfte: Einige der Bandidos waren zuvor bei den Freeway Riders, aber im Unfrieden ausgeschieden. Und andersrum waren einige Freeway Riders vorher bei den Bandidos. Eine toxische Mischung.
Schon langjährige Haftstrafen gegen Rocker in Hagen verhängt
Polizei und Staatsanwaltschaft griffen in der Folge massiv durch. Mit großen Razzien, Telefonüberwachungen und intensiven Ermittlungen ergründeten die Spezialisten für Organisierte Kriminalität die verschlossene Rockerwelt. Diverse Prozesse folgten. Ein Bandido sitzt derzeit bereits eine dreijährige Haftstrafe wegen Schüssen auf ein mit Freeway Riders besetztes Auto ab. Ein Freeway Rider – zuvor ein geachteter Kfz-Sachverständiger auch bei Gerichtsverfahren – muss eine fünfeinhalbjährige Haftstrafe absitzen, weil er einen Bandido auf offener Straße niedergeschossen hatte.
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Und derzeit findet eben jener Prozess statt, zu dem auch am Donnerstag einige Bandidos nach der Polizeiaktion eilen mussten: Es geht um zwei versuchte Tötungsdelikte gegen Freeway Riders in Hagen, Verstöße gegen das Waffengesetz – und eben um den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Im Vergleich zu den anderen Anklagepunkten ist die Straferwartung dafür eher gering. Aber die Verteidiger der Rocker hätten von Beginn an darauf gedrängt, diesen Vorwurf doch fallen zu lassen, ist aus Ermittlerkreisen zu hören. Sie hätten wohl geahnt, dass die Einschätzung der Strafverfolger ein Argument für ein Verbot sein könnten. Dass es sich hier nämlich keinesfalls nur um eine etwas bizarre Subkultur handele, sondern um eine auf die Begehung von Straftaten ausgerichtete Organisation.
Vereinsverbot in der Rocker-Szene
Rocker lösen Chapter auf und gründen sie wieder neu
Und in der Tat hatten die Rocker beider Seiten nach der heißen Phase des Rockerkriegs einiges unternommen, um die Spuren zu verwischen. So verkündete das Bandidos-Chapter im März 2020 lautstark, dass es sich aufgelöst habe. Wenig später gab es dann aber das neue Chapter Hohenlimburg/Witten, das das Innenministerium nun aber als Nachfolgeorganisation eingestuft und verboten hat.
Auch die Freeway Riders verkündeten im Jahr 2020 die Auflösung des Chapters in Hagen – also ausgerechnet ihre wichtigste Gruppierung in ihrer „Hauptstadt“. Doch auch hier gab es wenig später ein neues Chapter im Hagener Stadtteil Hohenlimburg. Das sei aber keine Nachfolgeorganisation, beteuerten die Rocker. Ob das die Behörden auch so sehen oder ob auch hier ein Verbot droht, dazu wollte das NRW-Innenministerium am Donnerstag nichts sagen. Fakt ist aber: Auch gegen Freeway-Riders-Mitglieder wird wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung ermittelt.
Bandidos-Anwalt: „Das Verbot wird keinen Bestand haben“
Dass das Verbot der Bandidos in Hagen erst jetzt, knapp drei Jahre nach der heißen Phase des Rockerkrieges erfolgt, liegt nach Einschätzung von Ermittlern an dem komplizierten Verfahren. „Da ist sehr intensiv geprüft worden, da ist viel gesammelt worden, um das Ganze rechtssicher zu machen“, so ein Insider gegenüber der WESTFALENPOST. Ob das Verbot letztlich tatsächlich Bestand haben wird, muss sich noch zeigen. Die Rocker können binnen eines Monats Klage beim Oberverwaltungsgericht einreichen. Und das werden sie auch tun, sagt Reinhard Peters, Anwalt aus Bochum, der schon seit Jahren Bandidos vertritt, gegenüber der WESTFALENPOST: „Ich bin mir sicher, dass wir auch gewinnen werden, denn die Begründung des Verbots hat keine richtige Grundlage.“
Innenminister Reul spreche von schweren Straftaten, mehreren Tötungsdelikten. „Aber tatsächlich hat es noch kein einziges Urteil in dieser Richtung gegeben,“ so Peters. „Und auch bei dem derzeit laufenden Prozess in Hagen ist es doch eigentlich für alle Prozessbeteiligten klar, dass am Ende der Tötungsvorwurf vom Tisch sein wird.“ Insofern sei er wirklich überrascht gewesen von dem Verbot am Donnerstag. „Was hier in Hagen geschehen ist, ist doch gar nicht vergleichbar mit den Straftaten, die bei anderen Verboten im Raum standen“, so der Anwalt. „Das wird keinen Bestand haben. Aber bis das entschieden ist, wird es sicher zwei Jahre dauern.“
Vielleicht wird sich auch dann erst entscheiden, was denn mit den beschlagnahmten Motorrädern geschieht. Die sind zwar Privatbesitz der Rocker, doch das Innenministerium beruft sich auf entsprechende Regelungen im Vereinsgesetz bei einem Verbot: So könnten auch diese für die Rocker so symbolträchtigen Fahrzeuge einkassiert werden, um Vereinsvermögen zu sichern. „Das wird aber so oder so keinen Bestand haben“, sagt Bandidos-Anwalt Peters: „Die Jungs bekommen ihre Maschinen wieder.“
>> HINTERGRUND: Bandidos-Führungsebene in Hagen vor Gericht
- Die Ermittlungen der Hagener Polizei und Staatsanwaltschaft rund um den Hagener Rockerkrieg haben inzwischen schon zu mehreren anderen großen Verfahren geführt.
- So etwa zu dem „Umarex“-Prozess: Ein Mitarbeiter des Arnsberger Waffenherstellers hatte Waffenteile aus der Firma gestohlen, zuhause zusammengebaut und die Waffen schließlich unter anderem in die Rockerszene verkauft. Er wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Auch weitere Mitangeklagte wurden verurteilt.
- Am Landgericht Hagen läuft zudem aktuell der wohl wichtigste Rocker-Prozess in Deutschland: Auf der Anklagebank sitzen unter anderem Peter M. und Leslav H., und damit die Führungsfiguren der Bandidos. Es geht in dem Verfahren vor allem um die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und versuchten Mord im Kölner Rockerkrieg mit den Hells Angels. Die Schüsse auf einen Rockertreff sollen von der Bandidos-Spitze angeordnet worden sein.
- Es ist nicht das erste Mal, dass das NRW-Innenministerium Rockergruppen verbietet: 2012 wurden die „Hells Angels MC Cologne“ und das „Bandidos MC Chapter Aachen“ einschließlich mehrerer Unterorganisationen rechtskräftig verboten. Das Verbot gegen die „Hells Angels MC Concrete City“ aus dem Jahr 2017 liegt noch beim Oberverwaltungsgericht.
>> FAKTEN: Bandidos und Freeway Riders stärkste Gruppen
Das Landeskriminalamt geht derzeit von diesen Kräfteverhältnissen in der Rockerszene NRW aus:
- Bandidos MC: 30 Chapter mit etwa 750 Mitgliedern
- Freeway Riders MC: 30 Chapter mit etwa 420 Mitgliedern
- Gremium MC: 7 Chapter mit etwa 260 Mitgliedern
- Hells Angels MC: 21 Chapter mit etwa 270 Mitgliedern
- Outlaws MC: 3 Chapter mit etwa 55 Mitgliedern
- Brothers MC: 96 Chapter mit etwa 65 Mitgliedern