Hagen. Nach 5100 Corona-Toten in NRW-Altenheimen wird Kritik laut: Expertin nennt mangelndes Wissen „beschämend“, Caritas brandmarkt zögerliche Politik.

Von den rund 12.000 Todesfällen in Nordrhein-Westfalen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie entfallen rund 5100 nach Angaben des NRW-Gesundheitsministeriums auf Bewohner in vollstationären Pflegeeinrichtungen. Ob hierbei bestimmte Bereiche, wie etwa Demenzstationen in den Alten- und Pflegeheimen, besonders betroffen sind, ist nicht bekannt. Dazu, so das von Karl-Josef Laumann (CDU) geführte Ministerium auf Anfrage unserer Zeitung, gebe es keine Erhebungen.

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Die Professorin Margareta Halek, die den Studiengang Pflegewissenschaft an der Uni Witten/Herdecke leitet, kritisiert, dass es rund ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie immer noch keine verlässlichen Daten gebe, aus denen man Maßnahmen für einen besseren Schutz der Altenheimbewohner ableiten könne. Dies sei beschämend, sagt sie im Interview mit unserer Zeitung: „Die Wissenschaft hat immer wieder eine solide klinisch-epidemiologische Datenbasis durch zielgerichtetes Testen, systematische Dokumentation und Aufbau eines Registers gefordert. Geschehen ist wenig.“

Ständig wechselndes Personal ist Risikofaktor in Pflegeeinrichtungen

Einfallstore für das Virus seien vor allem der Personal- und damit einhergehende Zeitmangel: „Mit jeder zusätzlichen nicht ausreichend qualifizierten Person wächst das Risiko.“ Die Politik habe den Pflegebereich der Ökonomie unterworfen und die Arbeitsplätze in der Branche unattraktiv gemacht. „Wäre das nicht so, hätte das Virus in vielen Fällen nicht so gravierend wüten können“, so die Pflegewissenschaftlerin.

Nur wenige Bundeswehr-Einsätze

Nur wenige Pflegeheime in der Region greifen auf die Bundeswehr bei Schnelltestungen zurück. Einige berichten, dass sie die Anforderung scheuen, weil sie die Soldaten auf eigene Kosten unterbringen müssten. Die Refinanzierung sei noch unklar.

Die, die Soldaten einsetzen, wie etwa die Seniorenzentren St. Ger­hardus Drolshagen oder Franziskaner-Hof Attendorn, haben gute Erfahrungen gemacht.

Das NRW-Gesundheitsministerium sieht indes keine Versäumnisse: Bei konsequenter Umsetzung und Beachtung der geltenden Hygiene- und Schutzmaßnahmen durch alle Betroffenen und Beteiligten gehe man davon aus, dass die Maßnahmen wie Testungen bei Besuchern, Personal und einen Eintrag des Virus in die Einrichtungen verhindern könne. Man werde die Regelungen weiter dem Infektionsgeschehen und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen anpassen.

Befragung von Altenheimen in der Region: Kritik an der Politik

Die Alten- und Pflegeheime in der Region halten sich an die vom NRW-Gesundheitsministerium aufgestellten Regeln. So zumindest die Auskunft auf eine breit angelegte Befragung unserer Zeitung von Einrichtungen unterschiedlicher Größe in der Region. Dreimal in der Woche das Personal testen, mindestens einmal in der Woche die Bewohner - und auch Küchen- oder Reinigungspersonal sowie Zulieferer müssen sich Tests unterziehen. Das Gleiche gilt umso mehr für Besucher, die vor Ort getestet werden oder ein aktuelles Testergebnis vorlegen müssen.

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Ob das genug ist, bezweifelt Elke Herm-Riedel, Regionalleitung Süd der Arbeiterwohlfahrt Westliches Westfalen (WW), die viele Einrichtungen in der Region unterhält „Der größte Wunsch und sehr zielführend wäre es, wenn wir täglich alle Bewohnerinnen und Bewohner sowie Mitarbeitenden testen könnten.“

Noch deutlichere Kritik kommt von Christian Stockmann, dem Vorstandsvorsitzenden des Caritasverbands Arnsberg-Sundern. Dieser hat sich wie 15 weitere Betreiber mit insgesamt weit mehr als 50 kleinen und großen Einrichtungen in ganz Südwestfalen an der Befragung unserer Zeitung beteiligt. Zu Beginn der Pandemie habe es an Schutzkleidung gefehlt, der Verband habe sie dann mit großem Engagement eigenständig besorgt. Im April/Mai habe der Verband die Politik und das verantwortliche Ministerium dazu aufgefordert, Corona-Testungen in den sensiblen Einrichtungen zu ermöglichen. „Dieser Vorschlag wurde politisch nicht aufgegriffen und unterstützt“, so Stockmann. Aus diesem Grund habe der Verband dann im Juni 2020 eigenverantwortlich flächendeckend präventive Testungen für die Mitarbeiter in seinen Einrichtungen organisiert, die erst seit November tatsächlich vorgeschrieben seien.

Caritas startet Lüftungs-Untersuchung mit vielversprechenden Ergebnissen

Ähnliches erlebe man nun beim Thema Lüften. Seit Juni/Juli beschäftige sich der Caritasverband Arnsberg-Sundern mit der Innenraumlufthygiene, da die Aerosolübertragung ein sehr bedeutender Übertragungsweg in Gemeinschaftseinrichtungen ist. „Leider wurde auch dieses Thema von der Politik im Bereich der Pflege und Betreuung vernachlässigt“, so Caritas-Vorstand Stockmann. Deshalb sei der Verband auch hier aktiv geworden.

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„In Zusammenarbeit mit dem Diplom-Chemiker Martin Wesselmann, der Mitglied der Innenraumhygienekommission des Umweltbundesamtes ist, wurde eine Überprüfung einer raumlufttechnischen Anlage im Realbetrieb beispielhaft in einem unserer stationären Seniorenhäuser mit all den alltäglichen Herausforderungen in unterschiedlichen Testzyklen durchgeführt.
Die Ergebnisse sind sehr überzeugend. Mit Unterstützung der raumlufttechnischen Anlagen kann eine mögliche Verbreitung des Corona-Virus über die Raumluft durch Aerosole reduziert werden. Die Ergebnisse können wir bei Bedarf interessierten Personen und Institutionen gerne zur Verfügung stellen.“

>> HINTERGRUND: Weitere Stimmen aus der Befragung

  • >> „Problematisch ist das Verlassen der Einrichtung bis zu sechs Stunden - hier ist keinerlei Kontrolle möglich. Selbst die Testung direkt nach Rückkehr und am zweiten Tag nach der Rückkehr bietet keinen Schutz. Falls sich der Bewohner außerhalb der Einrichtung infiziert hat, liegt die mittlere Inkubationszeit bei fünf bis sieben Tagen und damit besteht die Möglichkeit das Virus in die Einrichtung zu tragen und andere Bewohner zu infizieren. Problematisch ist das Besuchsrecht für jeweils zwei Besucher zweimal am Tag. Hiermit gelten in den Einrichtungen deutliche gelockerte Richtlinien im Vergleich zu der Kontaktbeschränkung im öffentlichen/privaten Bereich, die durch die jeweilige Coronaschutzverordnung gilt.“ Christian Bers, Sprecher der Katholische Kliniken im Märkischen Kreis
  • >> „Der größte Wunsch und sehr zielführend wäre es, wenn wir täglich alle Bewohnerinnen und Bewohner sowie Mitarbeitenden testen könnten. Außerdem wünschen wir uns eine einheitliche und zeitnahe Regelung, wie wir mit neuen Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Mitarbeitenden verfahren sollen, die nach der Reihentestung in die Einrichtung kommen und noch nicht geimpft sind. Eine hohe Impfquote ist nach wie vor der effektivste Schutz gegen das Virus bei den vulnerablen Gruppen. Elke Herm-Riedel, Regionalleitung Süd der AWO WW
  • >> „Sollten neue Virusvarianten auftauchen, gegen die der Biontech-Impfstoff nicht ausreichend wirkt, wäre die Schaffung von vorübergehenden ausgelagerten Quarantäne-Einheiten überlegenswert, um neue Ausbrüche zu verhindern. Vorteil für die Betroffenen wäre, dass sie sich in diesen Quarantäneeinrichtungen frei bewegen dürfen, weil dort nur Infizierte Personen untergebracht wären, während sie aktuell 14 Tage in ihrem Zimmer isoliert werden müssen und dieses nicht verlassen dürfen. Um dies umzusetzen, müssten aber geeignete Immobilien zur Verfügung stehen und zusätzliches Pflegepersonal gefunden werden, was angesichts des großen Fachkräftemangels schwierig werden dürfte.“ Matthias Germer, Geschäftsführer Märkische Seniorenzentren GmbH
  • >> „Insbesondere die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege arbeiten an ihren Belastungsgrenzen und setzen sich auch deutlich darüber hinaus für die Versorgung der Bewohner ein. Der seit dem 3. Februar anlaufende Einsatz der Bundeswehr könnte das durch die Einrichtung vorgehaltene Fachpersonal bei den Tests entlasten. Die Impf-Priorisierung der stationären Altenhilfe bewerten wir grundsätzlich positiv.“ Thomas Ludwig, Einrichtungsleitung Seniorenzentrum Franziskaner-Hof Attendorn
  • >> „Auf lange Sicht wird man die Testungen nicht mit ehrenamtlichen Mitarbeitern aufrecht erhalten können. Hierfür sollte den Einrichtungen offiziell durch die Pflegekassen zusätzliches Personal zur Verfügung gestellt werden, welches in den Pflegesatzverhandlungen Berücksichtigung findet. Die Testpauschale von 9 Euro pro Test reicht bei weitem nicht aus, um derzeit die zusätzlich entstehenden Personalkosten zu decken.“ Meinolf Breimhorst, Betriebsleiter Seniorenzentrum Waldstadt Iserlohn
  • >> „Der Einsatz der Bundeswehr ist sehr positiv zu bewerten, da hierdurch das Personal entlastet wird, welches seit Monaten an der Belastungsgrenze und oft weit darüber hinaus arbeitet.“ Oliver Hürtgen, Einrichtungsleitung Seniorenzentrum St. Gerhardus Drolshagen
  • >> „Bisher hatte wir keine Corona-Fälle bei Bewohnern oder Personal seit Beginn der Pandemie. Jetzt gilt: Impfen, Impfen, Impfen! Das ist der einzige Weg raus aus dieser Pandemie. Überzeugungsarbeit leisten und aufklären bei Unsicherheit und Unwissen.“ Jörg Rauhut. Einrichtungsleiter Cramer‘sche Fabrik/Prosana Menden
  • >> „Dank der Impfungen, die hier gut und unproblematisch abgelaufen sind, und der sehr guten Impfquote in unserem Haus, hoffen wir vor weiteren Ausbrüchen geschützt zu sein. Wir haben während eines Ausbruchs mit zehn Todesfällen im Dezember festgestellt, dass die Fehlerquote bei den Schnelltests recht hoch war. Dies bedeutet, dass sie zwar etwas mehr Sicherheit bringen, aber man sich nicht darauf verlassen kann und darf. Besuche müssen weiter möglich sein, allerdings würden wir uns wünschen, dass diese auf einen engeren Personenkreis – z.B. enge Angehörige – beschränkt würden, um das Risiko der Viruseintrags ins Heim zu reduzieren. Markus Hoffmann Vorstand und Einrichtungsleitung, Kath. Frauengemeinschaft Altersselbsthilfe e.V., Schmallenberg

INFO: Nur wenige Bundeswehr-Einsätze

  • Nur wenige Alten- und Pflegeheime in der Region greifen auf die angebotene Unterstützung der Bundeswehr bei Schnelltestungen zurück. Einige berichten, dass sie die Anforderung scheuen, weil sie die Soldaten auf eigene Kosten unterbringen müssten. Die Refinanzierung sei noch unklar.
  • Die, die Bundeswehrsoldaten einsetzen, wie etwa das Seniorenzentrum St. Gerhardus Drolshagen oder das Seniorenzentrum Franziskaner-Hof Attendorn, haben allerdings gute Erfahrung.