Paderborn. Eine unabhängige Studie will die Missbrauchsfälle im Erzbistum Paderborn aufarbeiten. Die Forscherinnen suchen Betroffene und weitere Zeugen

Das Dunkelfeld ist riesig. Zum Thema Missbrauch gibt es auch im Erzbistum Paderborn viele Fragen und bisher nur wenige Antworten. Das wollen Prof. Dr. Nicole Priesching und Dr. des. Christine Hartig von der Universität Paderborn, Lehrstuhl für Kirchen- und Religionsgeschichte, ändern. Sie untersuchen in einer Studie den Umfang des Missbrauchs, die Gewalterfahrungen der Betroffenen sowie das Verhalten der Verantwortlichen. Das Forschungsprojekt ist unabhängig; das Erzbistum Paderborn macht die Akten dafür zugänglich.

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„Es gilt herauszufinden, welche Personenkreise innerhalb der Kirche von Missbrauchsfällen wussten, wie Entscheidungen über das Ergreifen oder Unterlassen weiterer Maßnahmen getroffen wurden und ob strukturelle Bedingungen existierten, die Missbrauchshandlungen fördern konnten“, so Nicole Priesching. Dafür suchen die Wissenschaftlerinnen Zeugen, die entweder selbst Betroffene sind oder Kenntnis von Vorfällen aus dem Untersuchungszeitraum 1941 bis 2002 haben.

Die Perspektive der Betroffenen steht im Mittelpunkt

Christine Hartig von der Universität Paderborn
Christine Hartig von der Universität Paderborn © privat

Die vorhandenen Akten sind teils unvollständig und geben vor allem nicht die Perspektive der Betroffenen wieder. „Aber genau die interessiert uns ja“, unterstreicht Nicole Priesching. „Um Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, muss man mit verschiedenen Zeugen sprechen, mit den Betroffenen, aber auch mit anderen Zeugen, die Beobachtungen gemacht haben.“

197 Betroffene im Erzbistum für die Jahre von 1946 bis 2015 listet die erste große Studie der Deutschen Bischofskonferenz von 2018 auf, die sogenannte MHG-Studie. 111 beschuldigte Priester und Laien werden genannt, die meisten sind tot. Inzwischen haben sich 30 weitere Betroffene mit Vorwürfen gegen 26 Priester und Laien gemeldet. Die Bistümer haben sich lange schwer damit getan, das Ausmaß des Missbrauchs und vor allem die Systematik sowie die planmäßige Vertuschung der Taten wahrzuhaben. Viele Betroffene gerade im ländlichen Raum schweigen aus Scham oder Angst, aber auch, weil sie keine guten Erfahrungen mit der Institution Kirche gemacht haben.

Versetzungsstrukturen im Blick

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Eher durch Zufall kommen Fälle von Mehrfachintensivtätern ans Licht, die über Jahre hinweg immer wieder versetzt wurden, obwohl ihre Untaten aktenkundig waren. So der Fall des 2007 gestorbenen pädophilen Kaplans Heinz Pottbäcker im Bistum Münster, der in Waltrop, Rhede und Hamm-Bockum-Hövel in den Jahren von 1968 bis 1983 immer wieder Kinder missbrauchen konnte, weil er nach Anschuldigungen immer wieder versetzt wurde. Das Bistum Münster räumte 2018 ein, dass Verantwortliche der Bistumsleitung „auf schlimme Weise versagt“ hätten. Bereits 1968 war Pottbäcker wegen Missbrauchs in Waltrop vor dem Landgericht Bochum zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden.

„Hier in Münster haben sich insgesamt 11 Betroffene gemeldet“, so der Interventionsbeauftragte des Bistums Münster, Peter Frings, auf Anfrage. Auch in Münster arbeiten gerade unabhängige Wissenschaftler an der Universität die Missbrauchsfälle historisch auf. In Rhede haben sich Betroffene zu einer Selbsthilfegruppe zusammengefunden (www.selbsthilfe-rhede.de)

Trotz Verurteilung weiter als Priester eingesetzt

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Oder der Fall des Priesters Peter H. aus dem Bistum Essen. Der missbrauchte in Bottrop mehrere Jungen, wurde deswegen zur Therapie ins Erzbistum München versetzt und war dort jahrelang in der Pfarrseelsorge tätig, selbst nachdem er 1986 wegen erneuten Missbrauchs zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Erst 2010 erfolgte seine Suspendierung vom Priesteramt. Der vorbestrafte 72-Jährige lebt seit kurzem wieder im Bistum Essen, unter Aufsicht, er darf nicht als Priester arbeiten, bleibt aber weiter im Klerikerstand. Die Frage, ob Alt-Papst Benedikt XVI. in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising von den Vorwürfen gewusst habe, beschäftigt sogar die Weltpresse.

Priester hat mindestens 28 Kinder missbraucht

Peter H., obwohl vorbestrafter Sexualstraftäter, und obwohl sein Therapeut seinen Arbeitgeber davor warnte, ihn in die Nähe von Kindern zu lassen, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, wurde im Erzbistum München weiter in verschiedenen Gemeinden als Priester eingesetzt, wo er mit Kindern in Kontakt kommen konnte. Er missbrauchte an allen diesen Einsatzorten Kinder. Erst als Reinhard Marx 2008 das Bischofsamt in München/Freising und Franz-Josef Overbeck 2009 das Bischofsamt in Essen übernahmen, wurde H. Aus dem aktiven Dienst entfernt.

„Insgesamt müssen wir von mindestens 28 Betroffenen ausgehen“, so Ulrich Lota, Sprecher des Bistums Essen, auf Anfrage unserer Zeitung. Nachdem bekannt wurde, in welchem Essener Stadtteil H. derzeit lebt, sind Eltern und Gemeindemitglieder in großer Angst. Lota: „Das Bistum Essen nimmt die Sorgen der Gemeindemitglieder ernst und ist mit den Haupt- und Ehrenamtlichen vor Ort im Gespräch.“

Gab es bestimmte Muster?

Prof. Dr. Nicole Priesching von der Universität Paderborn leitet die Studie.
Prof. Dr. Nicole Priesching von der Universität Paderborn leitet die Studie. © privat

Wie sieht die Lage im Erzbistum Paderborn aus? „Wie wurde mit Beschuldigten umgegangen? Gab es bestimmte Muster? Gab es bestimmte Versetzungsstrukturen? Das sind die Fragen, die uns interessieren“, schildert Christine Hartig. „Wir versuchen abzuschätzen, wie groß der Umfang der Missbrauchsvorwürfe im Erzbistum Paderborn war. Das ist schwierig, weil den Betroffenen oft nicht geglaubt wurde, weil die Akten unvollständig sind und weil es nicht immer in den Akten dokumentiert wurde, wenn Missbrauchsvorwürfe an das Erzbistum herangetragen wurden.“

Christine Hartig möchte mit den Zeitzeugen anonymisierte Interviews führen. Der Datenschutz sei gewährleistet. In der Studie gehe nicht um juristisch bewertbare Aussagen, sondern um Zeitzeugen-Aussagen, „Niemand muss Angst haben, dass er im Nachhinein wegen Verleumdung oder unterlassener Hilfeleistungen angeklagt wird“, so Christine Hartig.

Laufend neue Fälle

Sind die Angstschwellen gesunken, über Missbrauch durch Priester zu sprechen? Die beiden Wissenschaftlerinnen hoffen, ja. Nicole Priesching: „Die Gesellschaft ist inzwischen sensibler für das Thema. Es werden – leider muss man sagen – laufend neue Fälle bekannt, und es melden sich immer mehr Betroffene. Wir hoffen auch, dass wir durch Gespräche mit Zeitzeugen Neues erfahren.“

Der Paderborner Erzbischof Hans-Josef Becker unterstützt das auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt. Weisungsbefugt ist er nicht.