Hagen. Der bekannte Sozialdemokrat Franz Müntefering legt ein neues Buch vor. Darin bläst er den Rechten den Marsch und tritt für Senioren-Rechte ein

Franz Müntefering ist 80 und mischt sich immer noch ein. Der bekannteste Sozialdemokrat Deutschlands legt jetzt ein neues Buch vor. „Das Jahr 2020+“ ist eine Gedankensammlung, keine Kampfschrift. Die Textbeiträge haben reflektierenden Charakter. So ist entsprechend der Untertitel zu verstehen: „Übers Einmischen, Mittun und ein gutes Stück Leben auch im Ältersein.“

Müntefering ist ein Mann des analogen Zeitalters. Das Rattenrennen um Aufmerksamkeit in den Sozialen Medien macht er nicht mit. Zuhause in Herne steht immer noch ein Faxgerät. Diese Vorbemerkung ist wichtig für das Verständnis des Buches. Denn der Sauerländer präsentiert seine Gedanken mit Gelassenheit. Drei Themen sind ihm wichtig, die Demokratie, die gerechte Verteilung und das Streiten dafür, dass alte Menschen gesellschaftlich nicht in der Unsichtbarkeit verschwinden.

Corona als Zeitenwende

Zum analogen Argumentieren gehört, dass „Münte“ seine Thesen immer wieder an der Geschichte Deutschlands und an seiner persönlichen Biographie überprüft. Die Corona-Pandemie liefert als Zeitenwende nicht nur den Anlass für das Buch. Sie hat es vielleicht auch mit dem erzwungenen Daheimbleiben erst ermöglicht.

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Demokratie ist eine Lebensform. „Denn Demokratie verbindet sich mit Aufklärung, Modernität, Souveränität, Urbanität, ökonomischem Erfolg. Dass sich mit der Demokratie auch die größte und einzigartige Idee der Menschheitsgeschichte verbindet, darüber freuen sich allerdings nicht alle ihre angeblichen Verehrer und Jünger. Dass alle Menschen ,frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind’. Das meinen sie nicht wirklich.“

Solidarität und Liberalität

Die Gleichwertigkeit aller Menschen, Liberalität und Solidarität über die Grenzen der eigenen Nation hinaus sind für Müntefering der Prüfstein, an dem man die neuen Populisten erkennt und messen muss. „Die massive Missachtung der Idee der Gleichwertigkeit zeigen Demokratiegegner ungeniert auch öffentlich. Lockrufe werden geprägt, die sich anhören wie: Wohlstand geht ohne Demokratie. Getarnt als nationales Interesse, mit völkischem Gebaren vermengt. Aber: Wir sind in Europa und letztlich in der ganzen Welt in einem Boot.“

Was Demokratie wirklich bedeutet

Geboren am 16. Januar 1940 in Neheim, aufgewachsen in Sundern, hat Franz Müntefering beim Großwerden erlebt, was Demokratie bedeutet, nämlich: „Keine Bombenangriffe, keine Flugzeugabstürze, keine Menschen mit erhobenen Händen und gefolgt von solchen mit einem Gewehr um Anschlag, keine hungernden Menschen aus anderen Ländern, denen man nichts Essbares geben durfte, nicht mal Kartoffelschalen, keine brennenden Häuser. Und keine Verbote für Protest, laut zu sagen, was an dem Geschehen idiotisch scheint oder ist. Nein, Krieg und Diktatur gehen anders.“

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Demokratie bedeutet Lebensqualität in Vielfalt. Das setzt Teilhabe voraus, sei es am Internet, an bezahlbarem Wohnraum oder an der Arbeitswelt. Münteferings Mission gilt darüber hinaus seiner eigenen Altersgruppe, die in der Corona-Krise als Risikogruppe pauschal abgewertet wurde. Um 2040 werden wohl 10 Millionen Deutsche älter als 80 Jahre sein. Was verbindet sich mit diesen Entwicklungen? „Die veränderten Strukturen in den Familienverbänden, die uns auch selbst betreffen. Dass die 70-jährigen den 90-Jährigen so nahe sind wie die 10-Jährigen den 30-Jährigen. Der Begriff ,alt’ auf Menschen bezogen ist recht vieldeutig, missverständlich, aber auch ehrlich und selbstbewusst.“

Nicht auf Beifall verlassen

Alt sein ist keine Krankheit, daher wehrt sich der Politiker gegen jedwede Stigmatisierung, sei es im Straßenverkehr oder in der Medizin. Die Corona-Isolierung von Bewohnern in Seniorenheimen zum Beispiel findet Müntefering grausam. Den unterbezahlten Pflegekräften rät er hingegen, sich nicht auf den Beifall in Zeiten von Corona zu verlassen. „Organisiert Euch gewerkschaftlich. So funktioniert das in unserem demokratischen sozialen Bundesstaat.“

Solidarität ist bei Franz Müntefering Grundton und Melodie der Demokratie. Diese Gewissheit hält er den neuen Rechten entgegen: „Unser tatsächliches Unvermögen, allen zu helfen, ist keine Entschuldigung dafür, einem Menschen oder zweien und so weiter nicht zu helfen. Es geht nicht darum, mit unseren begrenzten Kräften die Menschheit zu retten, sondern Menschen, möglichst viele einzelne.“

Franz Müntefering: Das Jahr 2020+. Übers Einmischen, Mittun und ein gutes Stück Leben auch im Ältersein. Dietz-Verlag