Hagen. Wie verändert Corona Bewegungen und Blicke von Menschen? Das untersucht die Hagener Ballett-Compagnie mit zwei Uraufführungen. Ein Probenbesuch.
Die Bühne ist eigentlich unmöglich. Hunderte Plexiglassplitter bedecken den Boden. Kein Durchkommen. Oder vielleicht doch, auf Zehenspitzen? „Der Tanz auf Scherben war eine große Herausforderung“, sagt Hagens Ballettdirektorin Marguerite Donlon über ihre neue Kreation. „Aber wir stehen im Moment in unserem Leben alle in einer herausfordernden Situation. Wir können das nicht ändern, aber wir können auf einem positiven Weg nach vorne kommen.“ Diese Bedingungen reflektiert das Hagener Ballett in dem neuen Tanzabend „Zart“ mit zwei Uraufführungen von Marguerite Donlon und Francesco Vecchione. Die Premiere ist am 3. Oktober. Wir konnten in die Proben sehen.
Klänge, in denen Glas zerschlagen wird
Mit flugähnlichen Bewegungen tanzt, nein schwebt das Ensemble über die Scherben auf der Bühne. „Going, going, going“, ruft Marguerite Donlon. So machen wir es! „This is really nice.“ Die Trainingssprache ist englisch in der Hagener Compagnie, denn die jungen Tänzerinnen und Tänzer kommen aus neun Nationen von Korea bis Mazedonien.
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„Als zeitgenössische Künstler arbeiten wir mit dem, was gerade in unserer Welt passiert, in unserer kleinen Welt und in der großen Welt, und mit einer Uraufführung ist das möglich“, erläutert Marguerite Donlon. In dem Stück „Fragile“ sucht die renommierte Choreographin Bilder für die Veränderungen durch die Corona-Pandemie. Wie wir neuerdings anders gehen. Wie wir anders schauen. „Durch Corona fühle ich mich, als ob ich ganz vorsichtig auf Eierschalen laufen muss. Die Situation ändert unsere Bewegungen und vor allem unser Sehen. Meine Augen müssen die Lage einschätzen, ist sie sicher oder unsicher? Mein Verhalten hat einen Effekt auf andere Leute. Das war der Ausgangspunkt für mich.“
Johann Sebastian Bachs kristallklare Klavierfugen wechseln mit elektronischen Klängen, in denen Glas zerschlagen und zermahlen wird. Die Tänzer proben mit Knieschonern und tragen schwarze Handschuhe. Sie balancieren, sie schweben, sie bahnen sich kleine Pfade, die wieder verschüttet werden. Und sie bauen sich aus den Scherben Häuser, die sofort wieder zusammenfallen. Dario Rigaglia kriecht über die Scherben auf der Suche nach einem Ausweg. Jeong Min Kims Häuschen stürzt ein. Liebe in Zeiten von Corona, so zerbrechlich, so funkelnd und so stark wie Glas.
Über Gemeinschaft und Einsamkeit
Oben im Ballettsaal studiert später Francesco Vecchione „Jurema“ ein, die zweite Uraufführung des neuen Ballettabends. Die Jurema ist eine Mimosenpflanze, und dem Trainingsleiter und Choreographen aus Neapel geht es in seinem Stück um die Natur und um Emotionen, um Gemeinschaft und Einsamkeit. Eine Gruppe von Bäuerinnen und Bauern sät, hackt, jätet, erntet; der Rhythmus ihrer Arbeit schwillt an zu einem selbstvergessenen spirituellen Ritual, einer Beschwörung.
„Die Inspiration kommt von alltäglichen Gesten und Körpersprache“, erläutert Vecchione. „Ich wollte etwas Schamanisches.“ Wie mit dem Brennglas werden unterschiedliche Innen- und Außenwelten untersucht. Die Gruppe verschmilzt in der Bewegung zu einem Kollektiv. „Öffnet Eure Brust zum Himmel“, ruft Vecchione. Aus wiederholten Bewegungen wird archaische Trance, wird Ekstase.
Die unmögliche Scherben-Bühne spiegelt derweil eine undenkbare Situation: das abstandssichere Tanzen. Vier Tänzer der Compagnie bilden im Privatleben zwei Paare. Sie sind die einzigen, die sich auf der Bühne nahe kommen dürfen. Abstandssicheres Tanzen ist ein Widerspruch in sich. Ballett lebt von der Berührung. Wie gehen Choreographen damit um? „Das ist für mich ein völlig neues, anderes Arbeiten“, sagt Francesco Vecchione. „Ich musste diesen neuen Weg erst entdecken, aber ich habe neue Farben gefunden und er hat neue Türe geöffnet.“
Eine philosophische Erkenntnis
Für Ballettdirektorin Marguerite Donlon macht Corona unversehens den eben genau den Abstand zwischen zwei Menschen zu einem Ereignis. „Der Platz zwischen zwei Tänzern wird regelrecht elektrisiert. Diese Erkenntnis war so stark für mich und für die Tänzer, eine ganz neue Erfahrung. Sie müssen sich jetzt anders ansehen, es geht durch das Auge in den Körper.“ Daraus lässt sich eine geradezu philosophische Erkenntnis ablesen: „Am Anfang stehen die Tänzer alle alleine, aber trotzdem sind sie zusammen. Das ist die Situation. So ist es auch heute im Leben. Meine Handlung hat Effekt auf andere. Wir sind alle miteinander verbunden.“
>> INFO: Premiere und Karten
- Der zweiteilige Tanzabend „Zart“ mit Uraufführungen von Marguerite Donlon (Fragile) und Francesco Vecchione (Jurema) feiert am 3. Oktober um 19.30 Uhr im Theater Hagen Premiere.
- Karten und Termine: 02331 / 2073218 oder www.theaterhagen.de