Hagen. Eine Richterin verlässt plötzlich den Staatsdienst und lässt den Bandidos-Prozess in Hagen platzen. Was dahinter steckt und die Folgen sind.

  • Dritter Prozess um die Aufarbeitung des Hagener Rockerkriegs
  • Verfahren ist am Montag überraschend geplatzt
  • Eine Richterin verlässt den Staatsdienst

Die ganz persönliche Entscheidung einer jungen Richterin sorgt für Aufregung in der Justiz: Eine Juristin am Landgericht Hagen will von heute auf morgen den Staatsdienst verlassen und sorgt damit dafür, dass ein Prozess gegen Mitglieder der Rockergruppe „Bandidos“ vorerst platzt. Und das, nachdem schon gut 50 Zeugen in dem sehr aufwendigen Indizienprozess gehört wurden.

Ein Umstand, der weit über die Grenzen Hagens hinaus in Justizkreisen bis hin zum zuständigen NRW-Ministerium in Düsseldorf für Gesprächsstoff sorgt. Dass Richter durch Krankheit oder Tod ausfallen und ein Prozess dadurch von vorn beginnen muss – das hat es schon häufiger gegeben. Dass aber – so die offizielle Begründung – rein persönliche Gründe dazu führen, daran können sich langgediente Richter, Staatsanwälte oder Verteidiger nicht erinnern. Auch im NRW-Justizministerium ist kein ähnlicher Fall bekannt. Die Richterin selbst möchte auf Nachfrage dieser Redaktion nicht weiter Stellung zu ihren Motiven beziehen. Nur soviel ist klar: Es gibt keinerlei Hinweise, dass es Drohungen aus der Rockerszene gegeben haben könnte, so ein Gerichtssprecher.

Der dritte Prozess aus dem Hagener Rockerkrieg

Die Folgen ihrer Entscheidung sind durchaus weitreichend: Der Prozess ist der dritte aus dem Komplex des Hagener Rockerkriegs Hagener Rockerkriegs, der die Justiz in Hagen ohnehin sehr belastet. Die teils blutigen Auseinandersetzungen, die die Bandidos sich mit den schon mehr als 45 Jahre in Hagen ansässigen Freeway Riders im Jahr 2018 geliefert hatten, werden seit März vergangenen Jahres am Landgericht aufgearbeitet. Im ersten Prozess wurde ein Bandido wegen der Schüsse auf ein Auto der Freeways zu drei Jahren Haft verurteilt. Ein zweiter Prozess dauerte dann fast ein Jahr: Am Ende wurde ein Freeway Rider wegen versuchten Totschlags zu fünfeinhalb Jahren verurteilt, weil er einen Bandido auf offener Straße niedergeschossen hatte.

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Nun also läuft seit dem 10. August der dritte Teil der Aufarbeitung. Es geht um schwere Vorwürfe: Zwei versuchte Tötungsdelikte stehen im Raum sowie die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Verstöße gegen das Waffengesetz. Und das Ganze findet statt in einer großen Besetzung. Sechs Angeklagte, zwölf Verteidiger und zwei Vertreter der Staatsanwaltschaft sitzen seit 13 Prozesstagen im Landgericht. Dazu noch eine Reihe von Wachtmeistern, die wegen der verschärften Sicherheitsvorkehrungen notwendig sind.

Extra Ersatz-Schöffen bestellt, doch das Problem liegt bei Berufsrichtern

Und die Schwurgerichtskammer: Die besteht aus drei Berufsrichtern, zwei ehrenamtlichen Schöffen und zwei Ersatzschöffen. Die hatte die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen von Beginn an eingesetzt, weil der Prozess mit 32 Verhandlungstagen bis in den Januar hinein nicht am Ausfall eines Schöffen scheitern sollte. Da hatte sie noch nicht ahnen können, dass das Problem bei den Berufsrichtern auftreten würde.

Die junge Juristin, die nun ausscheiden will, ist eigentlich Staatsanwältin in der am Anfang des Berufsweges üblichen Probezeit. In der Zeit, auch das ist nicht unüblich, hatte sie sich für ein Jahr als Richterin ans Landgericht abordnen lassen. Dort sollte sie bis Januar, beziehungsweise bis zum Ende des Rockerprozesses bleiben. Jetzt geht sie Knall auf Fall.

Wohl einige Zehntausend Euro Extra-Kosten fallen an

Neben dem großen Personalaufwand sind schon etwa 50 Zeugen gehört worden – teils hatten sie Anspruch auf Fahrtkosten und Verdienstausfall. Wie hoch die angefallenen Kosten bislang insgesamt sind, dazu kann das Landgericht Hagen keine Angaben machen. Ein erfahrener Jurist geht aber davon aus, dass einige Zehntausend Euro bislang zusammen kommen.

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Und das letztlich ganz ohne Nutzen: Denn der Prozess wird ab Januar komplett neu aufgerollt und mindestens bis September 2021 dauern. Es gibt keinerlei Spielraum, die bislang in vielen Stunden Zeugenvernehmung gewonnen Erkenntnisse auch im neuen Prozess zu verwenden. Da die Angeklagten weiter zu den Vorwürfen schweigen und die Staatsanwaltschaft an ihrer Anklage festhält, gibt es eine erneute aufwändige Beweisaufnahme.

Unterschiedliche Reaktionen auf die Entscheidung der Richterin

Die Reaktionen fallen unterschiedlich aus: „Die jetzige Verfahrenssituation ist aus Sicht der Staatsanwaltschaft sehr bedauerlich“, sagt etwa Dr. Gerhard Pauli, Oberstaatsanwalt und zuständiger Dezernent für Organisierte Kriminalität. „Dies gilt aber auch für die Entscheidung der jungen Kollegin, aus dem Justizdienst auszuscheiden.“ Hier also durchaus Bedauern über den Schritt. Auch die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen sagt, es gebe keinen Grund verstimmt zu sein wegen der persönlichen Entscheidung der Kollegin.

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Als „sehr ärgerlich“ bezeichnet hingegen Michael Aßhauer, einer der Verteidiger, im Gespräch mit unserer Redaktion die Situation. „Bei allem Verständnis für eine solche persönliche Entscheidung: Mein Mandant hat jetzt noch bis Herbst nächsten Jahres Unklarheit: Wie soll er sich um einen neuen Job bewerben, wenn er sagen muss, dass er ständig bei Gericht sein muss.“ Sollte es am Ende zu einer Verurteilung kommen, bei der die Kosten die Angeklagten zu tragen hätten, dann dürften nach seinem Verständnis die Zusatzkosten für die Neu-Auflage des Prozesses nicht dabei herangezogen werden.

Ein neuer Haftbefehl wegen 13 Schüssen aus der Maschinenpistole

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Zwei der sechs Angeklagte sitzen derzeit in Justizvollzugsanstalten – und das wird auch trotz der Entscheidung der jungen Richterin so bleiben. Der eine verbüßt ohnehin schon eine dreijährige Haftstrafe wegen des Urteils aus dem ersten Rockerprozess. Bei dem anderen wurde der Untersuchungshaftbefehl in dieser Sache zwar aufgehoben. Wenige Minuten später wurde aber ein neuer wegen versuchten Mordes verkündet. Mit 13 Schüssen aus einer Maschinenpistole soll er auf ein Hells-Angels-Café in Köln geschossen haben. Das wird Bestandteil des vierten großen Rockerprozesses in Hagen sein. Der beginnt am 22. Oktober.

>> HINTERGRUND: Rückkehr in Staatsdienst

  • Der jetzt für Aufsehen sorgende Schritt muss für die junge Richterin nicht das endgültige Aus im Staatsdienst bedeuten.
  • „Die Entlassung eines Richters oder eines Staatsanwalts auf eigenen Antrag steht für sich genommen der Rückkehr in den Staatsdienst grundsätzlich nicht entgegen“, so Hilal Tanrisever, Sprecherin des NRW-Justizministeriums. „Sofern er zum Zeitpunkt der Wiedereinstellung weiterhin die vom Gesetz insoweit aufgestellten Voraussetzungen erfüllt.“