Hagen. . Senioren tun sich sehr schwer damit, ihre Hilfsbedürftigkeit zu akzeptieren. Auch für die Kinder ist das eine Umstellung. Ein Erfahrungsbericht.

  • Angst und Scham halten viele Senioren zu lange davon ab, Hilfe zu akzeptieren. Sie fürchten den Verlust der Selbstbestimmung
  • Auch die Kinder können oft nicht damit umgehen, dass die Eltern nicht mehr alleine klar kommen
  • Der Schritt, eine fremde Person ins eigene Leben zu lassen, kostet große Überwindung

Oma weint. Sie vergisst neuerdings so viel. Zum Beispiel, den Herd auszumachen. Oder, wie man die Waschmaschine bedient. Oma weiß, dass etwas Furchtbares mit ihr passiert. Sie verliert den Verstand. Opa beteuert allenthalben: „Wir kommen klar!“ Aber irgendwann kommen Senioren eben nicht mehr alleine zurecht. Dennoch kostet es die meisten Älteren unglaubliche Überwindung, Hilfe zu akzeptieren. Der Schritt, eine Person von außen in die eigenen vier Wände zu lassen, sei es für eine stundenweise Unterstützung oder als 24-Stunden-Betreuung, fällt derart schwer, dass er meistens viel zu lange aufgeschoben wird. Eine persönliche Betrachtung.

Selbstbestimmung aufgeben

Warum ist das so? Hilfe zu akzeptieren, das bringt gewaltige Ängste mit sich. Oma und Opa fürchten, ihre Selbstbestimmung aufzugeben. Sie empfinden die Vorstellung als unendlich demütigend, dass jemand Fremdes in ihren Alltag eingreift, ihre Wäsche wäscht und sie selber badet. Sie vielleicht sogar nicht mehr als Menschen mit Würde ansieht, sondern als Stück Fleisch. Pflegefall, ein grausames Wort. Oma und Opa schämen sich.

Früher war nicht alles besser

Früher war alles besser, denken Oma und Opa. Auf den Mehrgenerationen-Bauernhöfen lief der greise Großvater einfach mit im Alltag. Von den Töchtern und Schwiegertöchtern wurde erwartet, dass sie die Alten pflegen. Das funktioniert heute nicht mehr. Auch die Töchter haben einen Beruf erlernt, und den müssen sie ausüben, schon alleine, um später genug Rente zu haben. Doch war früher wirklich alles besser? Nein! Die Dunkelziffer der Gewalt ist hoch. Angehörige, die mit der Krankheit Demenz überfordert waren. Großmütter, die das Essen nicht mehr selber kochen konnten, aber mit eisernem Willen die Schwiegertochter regieren wollten.

Die Möglichkeiten der Beratung und die professionelle Begleitung, die es heute gibt, vergrößern die Chance, ein würdiges und selbstbestimmtes Alter zu erleben. Nur müssen die Betroffenen vorher viele Vorurteile überwinden.

Wer bezahlt die Pflege?

Nicht zuletzt nährt die Geldfrage die Angst vor der Pflege. Wer in einer Zweizimmerwohnung von einer Mindestrente lebt, für den existiert die Überlegung „Ausländische Betreuungskraft“ nicht. Pflege ist ein Mittelstandsthema. Die Generation der heute 80-Jährigen hat sich krumm geschuftet, für ein Eigenheim und damit die Kinder es einmal besser haben. Sie möchte etwas hinterlassen. Die Vorstellung, den mit soviel Herzblut erschaffenen Besitz für die eigene Pflege auszugeben, statt ihn zu vererben, empfindet sie als demütigend. Dass ein Häuschen eine Altersvorsorge darstellt und notfalls verkauft werden muss, um die Betreuung zu sichern, kommt Oma und Opa ungerecht vor.

Die Angst vor dem Heim

Und dann ist da noch die Angst vor der stationären Pflege, vor dem Heim. Schreckliche Dinge erzählt man sich beim Seniorentreff über das, was Bekannten im Heim widerfahren sein soll: Überlastetes Personal, das gar nicht mitkriegt, wenn jemand nichts isst oder trinkt, Bewohner, die mit Medikamenten ruhig gestellt werden: Das Heim ist Hölle und Tabu zugleich. Nur die herzlosesten Kinder „tun Oma weg“.

Kinder mit Schuldgefühlen

Und die Angehörigen? Die zerreißen sich zwischen Überforderung und schlechtem Gewissen. Wenn starke Hände, die einen immer gehalten haben, plötzlich zittern, steht die Welt auf dem Kopf. Niemand schafft es, gleichzeitig zu arbeiten, für die eigenen Kinder zu sorgen und die eigenen Eltern Vollzeit zu betreuen, vor allem, wenn die Krankheit Demenz im Spiel ist. Die Angehörigen möchten all das Gute zurückgeben, das sie erfahren haben. Aber sie können es sich einfach nicht leisten. Denn das würde bedeuten, die eigene Arbeit aufzugeben. Ein Teufelskreis aus Schuldgefühlen und Liebe beginnt. Angesichts des Alters lernt man, was Demut ist.

Niemandem zur Last fallen

Lieber sterben, als den Angehörigen zur Last fallen, so lautet der Wahlspruch vieler Senioren. Nur kann man sich sein Ende – Gott sei Dank – nicht aussuchen. Und so wird von Oma und Opa erwartet, dass sie plötzlich eine Flexibilität zeigen, die früher niemals abgerufen werden musste. Sie müssen sich auf Fremde im Haus einstellen, auf die Polin. Sie müssen sich damit abfinden, dass die Töchter und Söhne ihre Pflege finanziell unterstützen, obwohl nach der natürlichen Ordnung der Dinge doch die Eltern den Kindern helfen und nicht umgekehrt. Sie müssen die Angst ertragen, hilflos, ausgenutzt und abgezockt zu werden.

Wenn dann aber der Schritt gewagt ist und die Betreuungskraft ins Haus kommt, dann atmen im Glücksfall alle auf. Dann heißt es: „Hätten wir das doch schon früher gemacht.“