Leverkusen. Was fällt einem zu Leverkusen ein? Nicht viel. Aber alle fragen: Wie tickt die Stadt? Wir haben nachgesehen und Überaschendes entdeckt.
Auf welcher Wolke die Stadt Leverkusen gerade schwebt, zeigt am schnellsten die Geschichte von der Ehrenbürgerschaft. Also: An einem Samstag im April wird Bayer Leverkusen Deutscher Fußballmeister, am Sonntag schon schlägt der Oberbürgermeister vor, dass der Stadtrat vier neue Ehrenbürger wählen möge: drei Funktionäre aus dem Vorstand des Fußballvereins und den Trainer. Sie hätten sich „in herausragender Weise um Leverkusen verdient gemacht“. Um die Dimension dieses Vorschlags ganz klar zu machen: In der kompletten Geschichte der Stadt Leverkusen, die gerade 94 Jahre alt geworden ist, gibt es nur zwei Ehrenbürger. Zwei. Zu vier.
Wenn man verstehen will, was die Deutsche Meisterschaft darüber hinaus mit dieser Stadt macht, was sich verschiebt, wenn die Fußballer den Himmel stürmen und der Konzern, der eine ganze Stadt getragen hat, in den Abgrund blickt, dann muss man zunächst etwas ausholen. Was ist Leverkusen, mittelgroße Stadt und große Unbekannte zugleich? Die meisten Menschen kennen nur den charakteristischen Wasserturm. Man sieht ihn von der Autobahn, wenn man vorbei fährt. Ja, genau, da liegt Leverkusen.
Was heute Leverkusen ist, hieß früher Wiesdorf
Eine Stadt, direkt neben Köln, geprägt von Industrie, Chemie-Industrie. 170.000 Einwohner. Doch dort, wo die Stadtgrenzen ins Bergische Land hinüberlappen, da gehören zu Leverkusen plötzlich ausgesprochen hübsche Dörfer. Ihren Namen trägt die Stadt nach dem Apotheker und Chemie-Unternehmer Carl Leverkus: Seine Arbeitersiedlungen verbanden die Orte, die am 1. April 1930 zu Leverkusen wurden. Das, was heute Leverkusen-Mitte ist, hieß bis dahin: Wiesdorf. Der Name war Programm, bis Leverkus kam und baute. Seine Söhne verkauften später an Bayer. Neben dem Chemiekonzern macht nur ein einziger anderer Faktor die neunundvierzigstgrößte deutsche Stadt bekannt: der Fußballverein. SV Bayer 04 Leverkusen.
1979 erscheint der SVB in der ersten Bundesliga, spielt seitdem sehr erfolgreich mit. Doch auf dem Erfolg liegt ein Fluch: Die Mannschaft wird fünfmal Zweiter, verliert drei Pokalfinale und ein Endspiel der Champions-League. Im Frühjahr 2002 gelingt sogar das Vize-Triple. Leverkusen heißt fortan Vizekusen. Ein-, zwei Vizetitel im Briefkopf zieren den Absender eher, aber neun wären tatsächlich etwas lächerlich. „Nie Deutscher Meister“, so gehen die Lieder der Anderen in den Stadien: „Ihr werdet nie Deutscher Meister.“ Der verfluchte zweite Platz.
„Ich hatte so oft Tränen in den Augen“ - „Ich auch!“ „Ich auch!“
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„Für die, die immer mit dem Verein unterwegs sind, war das schon eine Schmach“, sagt heute Reinhard Vergin (58). Der Fan und Gastronom ist immer dabei, man sieht ihn schon in Unterhaching im Jahr 2000. Als fast sicherer Deutscher Meister reist die Mannschaft an, als Gedemütigter ab. Ein Trauma. Ein anderer erinnert sich: „Die Schaffnersitze im Zug waren bis zur Decke voll mit Bierpaletten. Für die Rückfahrt. Es wurde keines angerührt.“ Die eingeflogenen Vorstände des Bayer-Konzerns sollen nach der Niederlage den gegenteiligen Entschluss gefasst haben, berichtet einer, der dabei war; aber auch das wäre ja verständlich.
Zur Fußballmeisterschaft 2024 sagt Vergin: „Das ist für uns jetzt der wichtigste Titel.“ Mehr als das Pokalfinale. Mehr als die Europa League, um die es heute Abend geht. Deutsche Meisterschaft heißt Schluss mit Schmach, Schluss mit Trauma. Die Nacht nach dem entscheidenden Spiel im April ist magisch, als ganz Leverkusen feiert, lacht und tanzt und trinkt und singt. Eine Kollegin der Rheinischen Post beschreibt aus jener Nacht eine Szene, die deutlich macht, wie tief der Stachel saß: „Wir haben es verdient, es gibt dann kein Vizekusen mehr“, sagt Verena Adam, und ihr Sohn Konrad ergänzt: „Ich hatte so oft Tränen in den Augen.“ – „Ich auch!“, „Ich auch!“ schallt es aus der Gruppe.“ – Das ist ja das tragische an echten Fußballfans: Sie sind lebenslänglich zu dem Verein verurteilt, in den sie sich einmal verguckt haben. Einer landet dann bei Bayern, ein anderer bei Bochum. Oder Leverkusen.
Oberbürgermeister: „Leverkusen hat die ganz große Bühne erklommen“
Vielleicht hatte auch Oberbürgermeister Uwe Richrath (SPD) im Stadion Bay-Arena oft Tränen in den Augen, doch heute kann er nur noch strahlen. Der 63-Jährige spricht in diesen Tagen viel mit Journalisten und Journalistinnen. Richrath sagt dann Sätze wie: „Die Sympathien für die Mannschaft bringen das Image der Stadt massiv nach vorn.“ Oder: „Wir erleben den Beginn einer neuen Zeitrechnung für die Stadt. Leverkusen hat die ganz große Bühne erklommen.“ Richtig ist jedenfalls: Die Zahl der Zugriffe auf Leverkusens Seiten im Internet ist explodiert, der Werbewert vermutlich unbezahlbar.
Im „Café Espresso Perfetto“ gegenüber dem Rathaus (das gar kein richtiges Rathaus ist, aber davon später mehr). Treffen mit Gerd Wölwer, der Chemielaborant gelernt hat und 1976 den ersten Bayer-Fanclub gründete; später wurde er Amtsleiter, ist heute Ratsherr. Fußball und Politik verbinden sich in ihm, so soll er uns weiterhelfen. Auch er sagt: „Dieser Verein ist unser größter Werbeträger.“ Er selbst habe den ewigen zweiten Platz nie als Schande empfunden, weiß aber, was viele andere sagen: „Es ist eine Befreiung.“
Nur der kleinere Teil der Chenie-Arbeitsplätze ist noch bei Bayer
Wölwer hofft, dass sich fortsetzt, was schon begonnen hat: etwa der Zuzug von Firmen. Vor zwei Jahren senkte die Stadt die Gewerbesteuer auf mit das niedrigste Niveau in NRW, so niedrig wie in der Nachbarstadt Monheim; seitdem kämen Firmen zurück. „Sie sagen uns, sie haben lieber Leverkusen im Briefkopf stehen als Monheim“, sagt Wölwer; und warum soll sich das nicht fortsetzen und verstärken? Nötig wäre es, denn der Konzern, der die Stadt Jahrzehnte lang getragen hat, der kränkelt. Nur der kleinere Teil der Chemie-Arbeitsplätze ist noch „beim Bayer“, wie sie hier sagen; und die Rundum-sorglos-Versorgung von Vereinen und Institutionen durch Bayer ist Geschichte.
26. April 2024, Hauptversammlung der Bayer-AG in virtueller Form, kein Vorstand trifft leibhaftig auf Aktionäre, sie werden wissen, warum. „Das Haus Bayer brennt lichterloh“, sagt ein Aktionärsvertreter, andere reden ähnlich. Der Börsenwert des Konzerns ist stark gefallen, Umsatz und Gewinn gehen zurück, sagen die Zahlen. Stellenabbau, Kostensenkung, das klingt alles nicht gut. Der umstrittene Unkrautvernichter Glyphosat produziert Anwaltskosten ohne Ende. Bayer-Chef Bill Anderson selbst schlägt später den Bogen zu den himmelsstürmenden Fußballern. Er habe sich schon mit Trainer Xabi Alonso getroffen, sagt Anderson, und dann, sehr amerikanisch: „Wir können immer lernen von großer Führung.“
Bayer Leverkusen spielt schon 40 Jahre früher Fußball als der 1. FC Köln
Eigentlich sind die Rollen nun vertauscht. Der Konzern, der die Stadt zusammenhält, tritt sichtlich in den Hintergrund; der Fußballverein übernimmt. Das sieht auch die Politik so: „Es gibt kaum etwas Verbindenderes für die Stadt als diese Meisterschaft“, heißt es bei der CDU; und auch die Grünen hoffen, dass der Fußball das Gemeinschaftsgefühl stärkt. Auch nach außen möchte Leverkusen endlich gesehen und anerkannt werden. Es dauert dann auch nicht lange im Gespräch mit Gerd Wölwer, bis er abräumt, was alle zu wissen meinen: die Geschichte vom Plastikverein, in der Retorte entstanden. Tatsächlich spielen sie Fußball bei Bayer Leverkusen schon seit 1907, also rund 40 Jahre länger als beim 40er-Jahre-Fusionsverein 1. FC Köln: „Diesem vermeintlichen Traditionsclub auf der anderen Rheinseite“, sagt er.
Natürlich dominiert Bayer Leverkusen gerade die Innenstadt. Vereinsfahnen wehen, hängen an Masten und aus Fenstern, Firmen und Werbepartner gratulieren von Plakaten. Vor dem Fan-Shop in der Fußgängerzone steht eine lange, lange Schlange; die Menschen wollen Fanartikel kaufen oder die bestellten Karten für das Pokal- und das Europa-League-Endspiel abholen. „Die machen jetzt den ganz großen Reibach“, sagt ein Mann, um nach dieser durchaus kritischen Bemerkung – hineinzugehen. Unter den Leuten ist auch der lebenslange Fan Andreas Schmidt, der alle Karten längst hat. Er ist nur hier, um mit dem einen oder der anderen und wieder den nächsten über Fußball zu reden. Wenn man genau hinsieht, stolziert er ein ganz kleines bisschen herum in seinem schwarz-roten T-Shirt.
Kein Hauptbahnhof, kein richtiges Rathaus, aber Deutscher Meister
Plötzlich ist es nämlich leicht, sich zu Leverkusen zu bekennen, weil der Mannschaft und dem Trainer die Sympathien zufliegen – auch außerhalb von Leverkusen. Das war ja nicht immer so. Dem ewigen Zweiten Leverkusen konnte nie das sympathische Image des Underdogs zuwachsen, weil er eben in dem Ruch stand, ein Plastikverein zu sein. „Profis mit Herz“, der Slogan aus alten Zeiten, verriet das nur zu gut, zeigte ja ganz im Gegenteil, das da irgendwas nicht stimmte. Heute zahlt der Konzern jährlich rund 25 Millionen Euro, das ist im Spitzenfußball keine große Summe mehr, dafür kriegt man ein mittelbesseres Torwarttalent. Auch hier wieder diese Verkehrung: Nun heißt der Slogan „Werkself“, und die Menschen benutzen das Wort im Gespräch tatsächlich: „Die Werkself soll noch zwei Titel holen.“
Die Stadt ist also obenauf. Obwohl sie natürlich Schwächen hat, die ins Auge fallen. Mehrmals stündlich rauscht der ICE ungebremst durch den Bahnhof Leverkusen-Mitte, so wie in Wolfsburg manchmal, nur ignoriert er diese Stadt hier fahrplangemäß. Einen Hauptbahnhof gibt es nicht. Die Fußgängerzone im Stil der 80er-Jahre ist, sagen wir, doch eher einfach. Die Innenstadt ist sehr autogerecht, die gewaltigen Autobahnen A1 umd A3 sollen noch breiter werden – teilweise auf Stelzen über der Stadt. Und um das mit dem Rathaus aufzuklären: Über dem Schriftzug „Rathaus“ steht im ersten Stock „Brasserie“, dort sieht man Menschen essen. Denn die Büros der Stadtspitze und die Rats- und Repräsentationsräume liegen aus Kostengründen in einem großen Einkaufszentrum. Das eigentliche Rathaus aus den 70er-Jahren war durch.
Der an dieser Stelle fehlende Balkon hat dazu geführt, dass einige Medien mal wieder eine routinierte Schmonzette über Leverkusen anlegten: Was soll das für eine Stadt sein, ohne Meisterfeier-Balkon? Richtig gezündet hat die Geschichte aber nie. Vielleicht, weil es einen Meisterfeier-Balkon an der Bay-Arena gibt, wohin sie den Feier-Korso dann auch lenken am letzten Sonntag im Mai? Vielleicht aber auch, denkt man, weil Leverkusen plötzlich etwas mehr Respekt genießt? Nicht mehr so schnell das Ziel billiger Witze ist? Aber wer will das schon sagen? „Die Zeitungen sind der Sekundenzeiger der Geschichte“, sagt der Philosoph Arthur Schopenhauer: „Er geht auch selten richtig.“
Stadtmarketing Leverkusen hofft jetzt auf Touristen
Auf der ganz großen Bühne, die Oberbürgermeister Uwe Richrath ansprach, wollen sie bleiben. Planen unter anderem ein Sportmuseum. Das Stadtmarketing hofft, dass Touristen Leverkusen entdecken, dafür sprechen die vielen Zugriffe neuerdings auf lust-auf-leverkusen.de. Die Wirtschaftsförderung hofft, dass Betriebe sich ansiedeln, jetzt, wo das Verliererimage Vizekusen überwunden ist. Die Xabi-Alonso-Straße, von der die Fans träumen, die wird es aber wohl nicht geben: Man erlebe gerade einen Hype, sagt Gerd Wölwer, aber Hype geht vorbei, „und dann haben sie eine Straße benannt nach einem Mann, der dann vielleicht längst in Madrid oder Manchester ist“.
Um das nun abzuschließen: Auf den Vorschlag des Oberbürgermeisters, vier neue Ehrenbürger zu berufen, folgte eine große Diskussion in der Stadt: Ist das wirklich verhältnismäßig, zwei verdiente Ehrenbürger zu haben und gleich vier hinzu zu wählen? Aus einem Fußballverein? Es kommt schließlich zu einem gesichtswahrenden Rückzug: Der Verein selbst erklärt zu verzichten, man fühle sich „durch die Euphorie in der Stadt und die herausragende Unterstützung der Fans hinreichend geehrt“. Es war das Beste, was Bayer machen konnte: in vorauseilender Klugheit Leverkusen neuen Spott zu ersparen. Da haben sie tatsächlich der Stadt gegenüber Führung und Verantwortung übernommen. Der beste Rat, wie man damit auf die Dauer umgeht, hängt eh über der Zufahrt zur Tiefgarage der Bay-Arena: „Hier regiert der SVB.“ Und auf einem Schild darunter: „Schritttempo fahren.“