Essen. Seit dem Kriegsausbruch gehen etliche Kinder aus der Ukraine in NRW zur Schule. Wie ein Schulleiter sich davon überfordert fühlt.

Sind die Schulen in NRW überfordert, weil sie so viele neu zugewanderte Kinder betreuen müssen? Diese Sorge haben viele Eltern im Ruhrgebiet. Zurecht, sagt ein Schulleiter. Er arbeitet an einer Schule im benachteiligten Quartier, die vom NRW-Schulministerium im höchsten Sozialindex eingestuft wurde. Das bedeutet, dass sie sich besonders vielen Herausforderungen stellen muss. Warum Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine an seiner Schule kaum eine Chance haben, Deutsch zu lernen, er sogar von einer „Bildungslüge“ spricht und sich seiner Meinung nach trotzdem nicht das ganze Schulsystem verändern muss, verrät der Schulleiter anonym im Protokoll:

„Ich verstehe die Sorgen vieler Eltern. ,Mein Kind kann nicht richtig lernen. Aber ich möchte doch, dass es irgendwann aufs Gymnasium kommt und nicht jetzt schon Bildungslücken hat.‘ Sätze wie diese höre ich oft. Und ich kann diese Ängste nicht leugnen oder schönreden. Das Land sagt zwar, dass die Bildungsstandards verbindlich für alle Schulen in NRW sind. Aber das ist nahezu eine Bildungslüge. Denn was passiert denn, wenn ich sage, dass 80 bis 90 Prozent der Kinder an meiner Schule diese Standards nicht erreichen?

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Ich leite in NRW eine Schule mit dem Sozialindex neun, also der Stufe mit der höchsten Belastung. Von Jahr zu Jahr werden immer mehr Kinder bei uns eingeschult, die gar keine Deutschkenntnisse haben. Es ist noch gar nicht so lange her, da betraf das die Hälfte aller Kinder. Jetzt sind es schon Dreiviertel.

Schulleiter in NRW: „Wir leben in einer Parallelwelt“

Dazu kommen die neu zugewanderten Kinder, aktuell vor allem aus der Ukraine. Wir müssen gucken, wie wir sie bestmöglich auffangen können. Grundsätzlich halte ich nichts davon, sie zu separieren, sondern finde es besser, wenn sie sofort Teil der Klassengemeinschaft werden. An vielen Schulen in NRW funktioniert das ja auch genauso. Aber wir leben hier in einer Parallelwelt.

In der Regel treffen zwei Kinder aus der Ukraine auf eine Klasse mit 28 Schülerinnen und Schülern. Diese 28 Schülerinnen und Schüler haben Deutsch als Muttersprache oder auch einen Migrationshintergrund, sind aber so gut integriert, dass man gar nicht merkt, dass sie noch eine andere Sprache sprechen.

Sprachbad funktioniert an NRW-Grundschule nicht

Mit ein paar extra Förderstunden schaffen die ukrainischen Kinder es, so die deutsche Sprache zu lernen. Sie können schließlich jeden Tag ein sogenanntes Sprachbad nehmen. Bei uns geht das nicht. Von den 28 Kindern sprechen schließlich nur zwei überhaupt Deutsch.

So enormen Herausforderungen wie wir haben nur wenige Schulen in NRW. Es ergibt meiner Meinung nach also keinen Sinn, das gesamte System zu ändern. Trotzdem muss Schulen wie unserer geholfen werden, damit wir mit all unseren Problemen nicht untergehen.

Ich will ja etwas verändern. Aber man stößt immer wieder auf Grenzen.
NRW-Schulleiter

Ich will ja etwas verändern. Aber man stößt immer wieder auf Grenzen. Ich bin müde vom System. Es zermürbt einen auf Dauer, weil man neue Ideen einbringt, aber dann mit den wenigen Ressourcen, die man hat, nichts bewegen kann. Es passiert noch viel zu selten, dass man uns wirklich zuhört und fragt: Was genau braucht ihr?

Schulleiter fordert mehr vorschulische Gruppe in NRW

Es wäre zum Beispiel wichtig, dass die vorschulischen Gruppen weiter ausgebaut werden. Viele Kinder bringen schließlich die sogenannten Vorläuferkompetenzen, die für eine Einschulung wichtig sind, gar nicht mehr mit. Das ist ein Problem in ganz NRW, was aber an Schulen wie meiner in extremer Form auftritt. Wie soll Schule funktionieren, wenn nicht das da ist, was wichtig wäre, um überhaupt einen Regelbetrieb zu gewährleisten? Da muss schon viel früher angesetzt werden.

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Dazu kommt: Es gibt für alle möglichen Themen Fortbildungen für Lehrkräfte. Aber keine einzige speziell für Brennpunktschulen. Unser Dienstherr gibt uns also keinerlei Input. Wie sollen wir uns da weiterentwickeln? Auch das müssen wir uns selbst erarbeiten. Deshalb haben wir Brennpunktschulen in NRW ein Netzwerk gegründet. Wir tauschen uns aus, hospitieren sogar beieinander. So wollen wir die Chance haben, von guten Beispielen zu lernen. Es war ein langer Weg, bis wir das herausgefunden haben. Aber jetzt ist das Netzwerk ein Zopf, an dem man sich rausziehen kann.“

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