Essen. Tausende Lehrkräfte werden gesucht, eine Studie behauptet nun, dass es bald zu viele geben könnte. Wie passt das zusammen? Die Hintergründe.
Was tun gegen den Lehrkräftemangel? Bundesweit fehlen laut der Lehrergewerkschaft GEW bis 2035 bis zu einer halben Million Lehrerinnen und Lehrer. Das könnte sich für die Grundschulen jedoch bald ändern: Der Essener Bildungsforscher Prof. Klaus Klemm kommt in seiner neuen Studie zu dem Ergebnis, dass zumindest an den Grundschulen der Lehrkräftemangel bald überwunden sein kann. Laut seiner Analyse für die Bertelsmann Stiftung, kann es sogar noch in diesem Jahrzehnt mehr Lehrerinnen und Lehrer geben als benötigt werden. Redakteurin Laura Lindemann hat Klemm gefragt, was das für die Schulen in Nordrhein-Westfalen bedeutet.
Herr Professor Klemm, erst kürzlich betitelte das NRW-Schulministerium den Lehrkräftemangel als eine der „zentralen Herausforderungen“ im Bereich Schule und Bildung. Mit einer Kampagne wirbt Schulministerin Dorothee Feller nun um Lehrerinnen und Lehrer. Sie wiederum prognostizieren einen Überschuss. Wie passt das zusammen?
Klaus Klemm: Wir haben in NRW nach wie vor einen Lehrkräftemangel, vor allem in den weiterführenden Schulen. In unserer Studie beziehen wir uns nur auf die Grundschulen. Schon Ende letzten Jahres prognostizierte die Kultusministerkonferenz, dass der Lehrermangel 2025 an Grundschulen beendet ist. Das liegt unter anderem am Ausbau des Grundschullehramts und der Aufnahme vieler Quereinsteiger. Neu ist jedoch, dass wir in den letzten zwei Jahren überraschend viele Geburtenrückgänge hatten, mehr, als bisher prognostiziert. Für NRW wurden von den Kultusministern für das Jahr 2022 rund 171.000 Geburten prognostiziert. Tatsächlich waren es aber nur 164.000 Geburten. Und für 2023 war der Unterschied noch massiver: Erwartet wurden 170.000 Geburten, real waren es aber nur 153.000 Geburten.
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Was bedeutet das konkret?
Das bedeutet, dass wir 2029, wenn die 2023 geborenen Kinder eingeschult werden, in NRW etwa 17.000 Schülerinnen und Schüler weniger haben als bislang angenommen. Entsprechend werden für diesen Jahrgang etwa 1000 volle Lehrerstellen weniger gebraucht. Ich nehme an, dass es in den nächsten Jahren auf diesem Niveau bleiben wird.
Warum ist es wahrscheinlich, dass die Geburtenrate weiterhin so niedrig bleibt?
Weil sich die Herausforderungen, die diese Zeit für Familien mit sich bringt, nicht so schnell ändern werden. Wegen des chronischen Personalmangels und Krankheitsausfällen haben Kita und Schulen ständig zu oder sind in der Notbetreuung. Oft müssen die Eltern dann einspringen. Hinzu kommen die Kriege und die allgegenwärtige Angst vor der Klimakrise. Das können Gründe dafür sein, dass sich Paare zweimal überlegen, ob sie ein Kind in diese Welt setzen möchten.
Gerade im Ruhrgebiet gibt es aber doch einen starken Zuzug von Geflüchteten, Zahlen vom Land zeigen, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im vergangenen Schuljahr angestiegen ist.
Das stimmt, sie werden aber bereits in den vorliegenden Prognosen mit eingerechnet, etwa die Familien aus der Ukraine. Und im Moment ist es schwer einschätzen, wie viele Menschen mit Kindern noch kommen werden.
Vielerorts fehlen sogar Schulplätze, in der Dortmunder Nordstadt, einem Stadtteil, in dem viele Geflüchtete ankommen, können einige Kinder nicht zur Schule gehen. Wird das Problem nicht bleiben?
Ja. Die Ungleichheit bei der Personalversorgung bleibt, solange sich die angehenden Lehrer die Schule aussuchen dürfen. Es gibt Stadtteile mit vielen Neuankömmlingen, in denen zugleich viele Lehrkräfte fehlen. Denn viele bewerben sich vorrangig an Schulen, an denen sie ein „pflegeleichteres“ Publikum erwarten und nicht dort, wo sie davon ausgehen, dass viele Kinder kein oder wenig Deutsch sprechen können und Eltern häufig nicht zum Elternabend kommen. Ich finde es sinnvoll, unterversorgte Gebiete zu bevorzugen, wenn es darum geht, wo die jungen Lehrkräfte eingestellt werden.
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Welche Folgen hat der drohende Überschuss an Lehrkräften für das Bildungssystem?
In den letzten Jahren haben wir massiv für Grundschullehrkräfte geworben, Kapazitäten für Lehrerausbildung hochgefahren. 2027 sind viele fertig und wollen Lehrer werden. Die stehen dann auf der Straße. Deshalb ist es wichtig, dass die Politik regelmäßig und zeitnah aktualisierte Prognosen macht, damit die jungen Menschen sich bei ihrer Studienentscheidung besser orientieren können. Denn sie orientieren sich bei ihrer Wahl des Studiums an der aktuellen Situation und nicht an der, die sein wird, wenn sie auf den Arbeitsmarkt kommen. Die Politik ist aufgefordert, Jahr für Jahr zu schauen, ob ihre Prognosen stimmten.
Können die vielen Lehrkräfte nicht auch eine Chance sein?
Das kann ich mir durchaus vorstellen. Dafür braucht es aber Unterstützung der Politik und Geld – doch der Haushalt ist dicht. In der Studie benennen wir drei Bereiche, in denen man die Lehrer gebrauchen könnte: Erstens könnten die zusätzlichen Lehrkräfte das ab dem Schuljahr 2024/25 von Bund und Ländern geplante Startchancen-Programm verstärken. Es soll dazu dienen, 4000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler gezielter zu fördern. Zweitens könnten die Lehrkräfte im Grundschul-Ganztag zum Einsatz kommen, wo Handlungsdruck besteht, da ab 2026 der Rechtsanspruch auf eine ganztägige Förderung im Grundschulalter greift. Drittens erscheint es sinnvoll, einen Teil der Lehrkräfte schon in ihrer Ausbildung darauf vorzubereiten, sie in den Jahrgangsstufen fünf und sechs der weiterführenden Schulen einzusetzen. Denn dort wird der Bedarf noch viele Jahre lang sehr groß bleiben.