Essen. Ein Siegener Soziologe meint, dass sich die Anforderungen an die Elternschaft geändert haben und spricht über die Gründe niedriger Kinderzahlen.
Es kommen so wenige Kinder zur Welt wie schon lange nicht mehr in NRW. Zuletzt wurden 2015 so wenige Kinder geboren wie im vergangenen Jahr. Haben sich die Entbindungszahlen nach einem sprunghaften Anstieg 2016 relativ konstant gehalten, sind sie im vergangenen Jahr wieder eingeknickt. Das zeigt eine Statistik des Landesbetriebs Information und Technik Nordrhein-Westfalen (IT NRW). Gleichzeitig entscheiden sich knapp ein Viertel der Befragten bewusst gegen eigene Kinder, wie aus einer Umfrage des ZDF hervorgeht.
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Aber wie kommt es zu dieser Entwicklung? Ein Interview mit Dr. Thomas Meyer (Uni Siegen) über mögliche Gründe für sinkende Geburtenraten. Meyer forscht im Bereich der Soziologie zu Themen der Familiensoziologie, Ungleichheitsforschung und der soziologischen Theorie.
Wie schätzen Sie den Geburtenrückgang aus soziologischer Sicht ein?
Dr. Thomas Meyer: Die Tendenz zu niedrigen Kinderzahlen ist aus wissenschaftlicher Sicht gar nichts Neues. Das ist ein Merkmal aller modernen Gesellschaften. Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist das Phänomen der Kinderlosigkeit, die in Deutschland besonders ausgeprägt ist. Mehr als ein Fünftel aller Frauen, bleiben zeitlebens ohne Kinder. Studien zeigen, dass sich seit Jahren lediglich 70 Prozent der Jugendlichen eigene Kinder wünschen. Was bedeutet, dass rund 30 Prozent eine Familienbildung gar nicht in Betracht ziehen. Heutzutage wird außerdem das Ideal einer Kleinfamilie mit zwei Kindern favorisiert. Während in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Geburtenzahl pro Frau hierzulande noch bei circa vier bis fünf und in den 1960er Jahren bei circa 2,5 lag, bewegt sich die Geburtenquote in den letzten Jahren um die 1,5, mit zuletzt fallender Tendenz.
Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Die „Kultur der Kinderlosigkeit“ verbindet sich mit der in der Familiensoziologie vielfach erörterten Pluralisierung privater Lebensformen, welche an die Stelle des früheren Monopols der Normalfamilie tritt. Heute ist es selbstverständlich, um nicht zu sagen „modern“ als „Single“, in einer Wohngemeinschaft oder eben in einer kinderlosen Partnerschaft zu leben.
Was können die Gründe für den sich aktuell abzeichnenden Rückgang der Geburtenzahlen sein?
Einiges spricht dafür, dass die Krisenerfahrungen unserer Zeit die Sorgen und Zukunftsskepsis weiter Bevölkerungsteile befeuert - die Pandemie, Kriege, zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit und die Inflation. Bisherige Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass die Krisenwahrnehmung zum Aufschub geplanter Familienbildungsprozesse oder gar zum gänzlichen Verzicht auf Kinder führen.
Hat das auch etwas mit der generellen gesellschaftlichen Entwicklung zu tun?
Ein Dauerbrenner der hiesigen Diskussion sind die Probleme der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Trotz des Ausbaus der öffentlichen Kinderbetreuung und der Ganztagsbildung in den letzten Jahren, herrscht hier aus der internationalen Perspektive gesehen, Nachholbedarf.
Ein anderer Gesichtspunkt ist die Revolution des Wertewandels, welche traditionelle und religiöse Orientierungen zurückdrängt. Die Menschen wollen sich stärker als früher individualisieren, streben nach Selbstverwirklichung, Autonomie und Unabhängigkeit. Oftmals kollidiert die zunehmende Erlebnis- und Karriereorientierung mit dem Hochleistungsprogramm einer Familie. Nicht zuletzt viele Frauen, die Gewinnerinnen der Bildungsexpansion, streben nach Selbstverwirklichung – gerade auch im Beruf. Die Gleichzeitigkeit der Familien- und Berufsorientierung bringt einerseits kleine Familien und andererseits eine zumeist auf Teilzeit- und prekäre Jobs bezogene Müttererwerbstätigkeit hervor.
Haben sich die Anforderungen an eine Elternschaft geändert?
Die Ansprüche und Erwartungen an die Eltern sind komplizierter geworden, weswegen junge Menschen oftmals auf Kinder verzichten oder es bei Kleinfamilien bleibt. Hierzu tragen auch der veränderte Stellenwert der Kinder, die hochgetriebenen Ideale einer glücklichen Kindheit sowie das Ziel einer erfolgreichen Bildungslaufbahn bei.
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