Berlin. Hierzulande haben etwa 2,7 Millionen Menschen eine Tinnitus. Die Chefin des Tinnituszentrums der Charité verrät, was bald helfen könnte.

Tinnitus ist wohl eines der belastendsten Symptome des Menschen. Die Betroffenen nehmen dauerhaft Geräusche wie Zischen, Pfeifen oder Brummen wahr. Diese Störgeräusche sind für die Patienten tatsächlich deutlich zu hören, auch wenn es gar keine externe Geräuschquelle dafür gibt. Der Tinnitus kann über verschiedene Ursachen ausgelöst werden, darunter Hörverlust, Infekte, Verletzungen oder auch psychische Aspekte wie Stress. Die Ursachenfindung kann aber schnell zum langwierigen Prozess werden.

Darunter leiden viele Patienten, da Linderung nicht in Sicht ist. Die gute Nachricht: Vielen Betroffenen kann glücklicherweise geholfen werden. Im Gespräch mit dieser Redaktion erklären Prof. Dr. Birgit Mazurek, Direktorin des Tinnituszentrums der Charité Berlin sowie Dr. Maren Stropahl, Neurowissenschaftlerin und Leiterin Audiologie beim deutschen Hörakustik-Unternehmen Geers, wie die Behandlung bestenfalls abläuft und welche Heilungsmöglichkeiten in Zukunft noch entwickelt werden könnten.

Wie läuft die Behandlung von Tinnitus bisher ab?

Prof. Dr. Birgit Mazurek: Die Behandlung für den chronischen Tinnitus ist über die sogenannte S3-Leitlinie definiert. Dabei gibt es vier große Pfeiler: Das eine sind die Aufklärung über die Erkrankung und die entsprechende Beratung. Der zweite Faktor ist die Hörgeräte- oder Cochlea-Implantat-Versorgung, falls ein Hörverlust vorliegt – der ist nämlich eng mit der Entstehung eines Tinnitus verbunden. Hinzu kommt die Verhaltenstherapie, bei der die Patienten lernen, mit der Erkrankung zu leben. Der vierte Pfeiler ist die sogenannte Selbsthilfe.  

Kann sich Tinnitus auch unbehandelt verbessern?

Mazurek: Grundsätzlich muss man zwischen dem akuten und dem chronischen Tinnitus unterscheiden. Bei einer akuten Variante sprechen wir von einer Erkrankung, die bis zu drei Monate anhält. Dann ist eine sogenannte Akuttherapie sinnvoll, die mittels Medikamente durchgeführt wird. Es gibt zwar die Möglichkeit, dass sich der Tinnitus von selbst verbessert, das ist aber nicht mit Zahlen zu belegen.

Sind die drei Monate vorbei, sprechen wir von einem chronischen Stadium. Hier muss man unterscheiden, ob die Erkrankung mit oder ohne Leidensdruck einhergeht. Wenn jemand im chronischen Stadium sehr gut mit der Krankheit umgehen kann, kann man den Tinnitus immer weiter in den Hintergrund drängen und muss nicht groß eingreifen.

Bei Patienten, bei denen Komorbiditäten (Begleiterkrankungen, Anm. d. Red.) wie Schlaf- oder Konzentrationsstörungen, vor allem aber schwerere Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen auftreten, wird der Tinnitus nicht von allein wieder verschwinden. 

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Wie wichtig sind denn Hörgeräte für die Behandlung eines Tinnitus?

Dr. Maren Stropahl: Es ist wichtig, dass die Leute darüber aufgeklärt werden, dass eine Hörversorgung bei Hörverlust auch den Tinnitus positiv beeinflussen kann. Dies gilt auch für leichten bis moderaten Hörverlust. Generell sollte die Versorgung eines Hörverlusts nicht zu lange herausgeschoben werden, um kognitive und Alltagsfunktionen zu unterstützen. Die Hörversorgung hilft vor allem auch, um Begleiterkrankungen wie Stress zu behandeln, die durch das eingeschränkte Hörvermögen entstehen können. Durch das Hörgerät verbessert man auch die Lebensqualität. Ein Hörtest ist einfach und hilft schnell dabei, einen potenziellen Hörverlust zu erkennen.

Mazurek: Hörgeräte sind wirklich sehr wichtig. Die Patienten merken am Anfang oft gar nicht, dass ihre Hörleistung abbaut. Man denkt, man hört alles, tut es aber nicht. Nach wie vor fallen zu viele durchs Raster.

Prof. Dr. Birgit Mazurek
Prof. Dr. Birgit Mazurek ist die Leiterin des Tinnituszentrums der Charité Berlin. © © Charité | Sebastian Tromm | © Charité | Sebastian Tromm

Welche Behandlungsmethoden könnten in Zukunft auf uns zukommen? Wie erfolgversprechend sind sie?

Mazurek: In Zukunft dürfte sich die Behandlung eher in Richtung personalisierte Medizin entwickeln. Das heißt, dass die Diagnostik anhand von genetischen Aspekten und spezifischen Biomarkern durchgeführt wird. Hinzu kommen Laborparameter wie z.B. Blutfettwerte, die mit Hörverlust und Tinnitus in Verbindung gebracht werden. So könnten wir den Patienten rechtzeitig personalisierte Therapieangebote anbieten. Da ist in den letzten drei bis vier Jahren schon ein relativ großer Fortschritt gemacht worden.

Zudem kann genauer differenziert werden, für wen sich eine klassische Verhaltenstherapie lohnt oder ob eher schema-therapeutische oder eine tiefenpsychologische Therapieform geeigneter ist. Zusätzlich müssen geschlechter- und altersspezifische Faktoren mehr in den Fokus gerückt werden, da die jeweiligen Patienten unterschiedlich auf die verschiedenen Therapieformen ansprechen.

Wie sieht denn ein möglicher Zeitrahmen für diese Veränderungen aus?

Mazurek: Das ist nur schwer abzuschätzen. Hätte man mich zum Beispiel vor fünf Jahren gefragt, ob genetische Aspekte bei Tinnitus eine Rolle spielen, hätte ich das verneint. Jetzt wissen wir, dass solche Aspekte bestehen. Es ist grundsätzlich aber nicht zu erwarten, dass es jetzt nächstes Jahr eine Revolution in der Entwicklung geben wird. Wenn man allerdings einen Zeitraum von etwa fünf bis zehn Jahren betrachtet, sind doch deutliche Entwicklungen zu erwarten.

In den USA zum Beispiel gab es jetzt erstmals gentherapeutische Interventionen an Jugendlichen und Erwachsenen, wo neue Hörzellen im Menschen selbst gebildet wurden. Die Patienten können jetzt wieder hören. Die langfristige Entwicklung des Hörvermögens bleibt noch abzuwarten, aber das sind schon revolutionäre Schritte.

Könnten auch Apps oder andere digitale Anwendungen in die Behandlung einfließen?

Stropahl: Seit 2020 gibt es ein entsprechendes Gesetz, dass die Behandlung durch digitale Anwendungen erlaubt. In diesem Rahmen sind auch Tinnitus-Apps entstanden, die beim Selbstmanagement helfen, wodurch eine Art kontinuierliche Begleitung angeboten werden soll. Dadurch soll die Lücke zwischen Therapie und Selbstmanagement geschlossen werden. Im Moment sind diese Angebote noch nicht wirklich auf die einzelnen Betroffenen angepasst.

Ich könnte mir aber vorstellen, dass sich auch hier in naher Zukunft noch einiges entwickeln wird. Diese Apps ersetzen jedoch keine Therapien und dürfen bei der Behandlung nicht alleinstehen. Langfristig könnten sie den Patienten aber helfen.

Maren Stropahl Geers Sonova
Maren Stropahl ist Neurowissenschaftlerin. Sie leitet die ganzheitliche Hörversorgung für die Sonova Gruppe sowie die Audiologie des deutschen Hörakustik-Unternehmens Geers. © Geers Sonova | Geers Sonova

Gibt es auch Probleme bei solchen Apps?

Mazurek: Digitale Anwendungen gibt es schon länger, unter anderem auch zur Depressionsbehandlung. Sie werden in Deutschland aber nur über den Arzt verschrieben. Die Studienlage ist bisher noch neutral. Was wir aus ähnlichen Angeboten bei Tinnitus und aus der Depressionsbehandlung aber bisher wissen: Digitale Anwendungen sind nicht für alle Patienten geeignet. Nicht alle nehmen diese Apps an.

Gerade wenn Komorbiditäten auftreten, ist es nicht das Maß der Dinge. Natürlich können solche digitalen Anwendungen Zusatzmaßnahmen sein. Viele Patienten brauchen aber den Kontakt, brauchen auch die Anbindung zu anderen Betroffenen und den Ärzten. Wenn jemand einen Tinnitus mit Depression hat und einfach eine App verschrieben bekommt und keine Anbindung sowie keine weitere Nachfragemöglichkeit hat, ist das sehr schwierig.

Stropahl: Im Moment sind die digitalen Anwendungen noch nicht in der Lage, eine wirkliche Therapie zu kompensieren. Wenn es aber in Richtung Personalisierung und das Sammeln von Daten geht, kann das definitiv dazu beitragen, mehr Einblicke in Krankheitsentwicklungen und Therapieerfolg zu bekommen.

Kann die psychische Verfassung einen Tinnitus verstärken?

Mazurek: Ja. Bei der Entstehung von Tinnitus sind Ursachen etwa in der Peripherie auf einen Hörzellschaden zurückzuführen. Diese Schädigung sorgt dafür, dass Neurotransmitter ausgeschüttet werden, die dann wiederum im Gehirn wahrgenommen werden. Durch Verbindung mit dem limbischen System kann der Tinnitus als Belastung wahrgenommen. Das ist der Teil im Gehirn, in dem unter anderem Stress, Aufmerksamkeit und Stimmung reguliert werden. Hier wird also festgelegt, wie belastet sich der Betroffene fühlt.

Der zweite Aspekt, der eine Rolle spielt, ist die psychische Ebene. Also: Lebe ich in Scheidung? Habe ich gerade die Arbeit verloren, habe ich noch vier kleine Kinder zu Hause? Solcher „Stress“ kann die Tinnitus-Erkrankung nicht nur hervorrufen, sondern auch verstärken. Die Belastung kann so groß werden, dass es nicht mehr möglich ist, den Tinnitus zu ignorieren.

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Kann man einem Tinnitus denn überhaupt vorbeugen?

Mazurek: Einer der großen Hauptfaktoren für einen Tinnitus ist Lärm und demzufolge präventiv der Schutz vor Lärm, sei es durch Ohrstöpsel in Clubs, Diskotheken und Konzerten. Ein weiterer wichtiger Aspekt kann es sein, z.B. die eigenen Kopfhörer nicht zu laut zu drehen. 

Der zweite Punkt ist eine Hörhygiene. Wenn man regelmäßig Umgebungslärm ausgesetzt ist und ständig beschallt wird, ist das Gehör irgendwann gestresst. Unser Gehör sollte deshalb auch mal eine Hörerholung haben.

Kann man bei akuten Problemen zu Hause etwas gegen den Tinnitus unternehmen?

Mazurek: Wer ein akutes Ohrgeräusch hat, sollte sich umgehend zu einem HNO-Facharzt begeben und eine Abklärung durchführen lassen. Es kann zwar banale Erklärungen wie etwa einen Ohrpfropf für den Tinnitus geben, es können aber auch schwerwiegendere Ursachen verantwortlich sein, wie z.B. ein Hörsturz. Da sollte zügig gehandelt werden.