Lwiw. Je weiter Russland im Osten der Ukraine vorrückt, desto mehr Menschen fliehen in den Westen nach Lwiw. Doch zur Ruhe kommen sie dort nicht.

Ein paar halb verfallene alte Sanatoriumsgebäude, dazwischen aufgeweichte, schlammige Wege. Hier am Stadtrand von Lwiw scheint Russlands Krieg gegen die Ukraine weit weg zu sein. Doch in den müden Augen von Alina Fjodoriwna spiegeln sich die Schrecken wider, die sie in ihrer Heimatstadt Pokrowsk erlebt haben muss. Einer der umkämpftesten Städte des Donbass.

„Als wir losfuhren, gerieten wir direkt in ein Bombardement. Wir sind am Leben, wir haben überlebt. Wie durch ein Wunder sind auch unsere Töchter unverletzt geblieben”, sagt Fjodoriwna und kämpft mit den Tränen. Doch sie will nicht aufhören, zu erzählen. „Während der Flucht gerieten wir ständig unter Beschuss, mussten uns fünf Nächte in einem Keller verstecken. Gott sei Dank, Gott sei Dank sind wir jetzt am Leben, wir sind am Leben.”

Fjodoriwna sitzt etwas verloren in einem Raum, der in seiner Kargheit an ein Verhörzimmer erinnert. Ein halb vertrockneter Blumenstrauß in der Ecke scheint die seelische Lage der Menschen widerspiegeln, die in dem ehemaligen Sanatoriumsgebäude leben. Fjodoriwna und ihre Tochter sind zwei von 60 Bewohnern der Unterkunft. In den wenigen Räumen stehen Doppelstockbetten. Es gibt ein ebenfalls karges Kinderspielzimmer, eine Küche mit einem langen Tisch und zwei Herden und zwei Waschmaschinen. Die Einrichtung ist eher funktional als wohnlich, als ob sich die Menschen, die hier leben, nicht zu heimisch fühlen sollen.

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Ankunft am Lwiwer Hauptbahnhof

Die Menschen, die in dem ehemaligen Sanatorium untergebracht werden, kommen direkt mit Bussen vom Lwiwer Hauptbahnhof, an dem Krieg und Frieden an einem Ort zusammenkommen zu scheinen. Auf der einen Seite fahren moderne Schnellzüge Richtung Polen, Richtung EU, Richtung Westen. Und von der anderen Seite rollen dicht besetzte Bahnwaggons aus dem Osten der Ukraine kommend in die große Bahnhofshalle ein.

Will lieber etwas Nützliches tun, als am Strand liegen. Der Engländer Steve verbringt seinen Urlaub in Lwiw, um Flüchtlingen zu helfen.
Will lieber etwas Nützliches tun, als am Strand liegen. Der Engländer Steve verbringt seinen Urlaub in Lwiw, um Flüchtlingen zu helfen. © Leonard Hennersdorf

Auch heute kommen auf dem Bahnsteig wieder Freiwillige in klar erkennbarer, blauer Kleidung und gelben Warnwesten zusammen. Einer von ihnen ist Steve. Ein ruhiger, hoch gewachsener Engländer. Er kommt direkt von der schottischen Grenze, hat sich eine Woche Urlaub von seinem Job genommen, um in der Ukraine zu arbeiten – aber unbezahlt. Er will „die richtige Seite gegen die Grausamkeit Putins unterstützen“, sagt er. Jedenfalls sei es ihm wichtig, „etwas Nützlicheres zu tun, als an einem Strand in Spanien zu sitzen.“

Mit aufmerksamem Blick verfolgen er und fünf weitere Freiwillige, wie ein Zug mit abblätternder, dunkelblauer Farbe in den Bahnhof einfährt. Der Zug ist besonders. In einem der abgenutzten Wagen befinden sich Geflüchtete, nicht aus einem anderen Land, sondern aus dem Osten der Ukraine, die in den Westen fahren. Trotzdem scheint es, als kämen sie aus einem anderen Universum, als sie den Kopf aus der Tür des jahrzehntealten Eisenbahnwaggons stecken.

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Sie tragen Taschen um Taschen aus dem Zug, der Bahnsteig füllt sich mit Gepäck. Einige von ihnen wären eigentlich nicht mehr reisefähig gewesen aufgrund Alter, Erkrankungen oder Verletzungen. Doch für die Arbeit mit Menschen, die die hohen Bahnhofstreppen nur noch schlecht bewältigen können, ist Ptaha, die Hilfsorganisation, bestens gerüstet. Routiniert heben sie einen alten Mann mit krummem Rücken, der kaum einen Schritt gehen kann, aus dem Zug. Das ist harte Arbeit, da die zum Teil aus Sowjetzeiten stammenden Wagen der ukrainischen Bahn nicht barrierefrei gebaut sind. Stattdessen führt eine steile Konstruktion, halb Leiter, halb Treppe, auf den Bahnsteig hinab, nahezu anderthalb Meter.

Doch mit vereinten Kräften gelingt es den Helfern, den kaum bewegungsfähigen, schweigsamen Mann direkt in einen bereitstehenden Rollstuhl abzusetzen. Fürsorglich greift Steve sofort die Griffe, um den Geflüchteten in ein Auto zu bugsieren, das am Bahnsteig bereitsteht. Auf der Weste des Mannes aus dem Kriegsgebiet steht „Feuerwehr Diekholzen“, ob es sich um ein gespendetes Kleidungsstück handelt, ist unklar. Für die Hilfe scheinen die Ankommenden dankbar zu sein, doch die Kraft, dies auch zu sagen, haben sie nicht. Sie sprechen selten, antworten kaum, wirken verwirrt von all der Aufmerksamkeit, die ihnen hier plötzlich zuteilwird.

Helfer haben den alten Mann aus der Ostukraine in einen Rollstuhl.
Helfer heben den alten Mann aus der Ostukraine in einen Rollstuhl. © Leonard Hennersdorf

Arzt ohne Schlaf

Der Mensch, der hier alles im Blick hat, heißt Valentyn Bordun. Er ist in einem kleinen Dorf in der Nähe von Lwiw geboren und aufgewachsen, studierte dann jedoch Medizin in Kiew. Nun arbeitet er als Arzt in Lwiw. Mindestens ein Mal pro Woche hilft er in der Ankunftsstelle am Hauptbahnhof, die Geflüchtete bei der Suche nach einem Zuhause und der Weiterreise unterstützt. An einem Tag arbeitet er hier vierzehn bis fünfzehn Stunden, erklärt er. Dazu kommen mehrere Stunden Organisationsarbeit in der Woche, die er neben seiner üblichen Arbeit noch erledigt.

Zu Beginn des Krieges war es sogar noch viel mehr, erzählt er: „Ich half dabei, diese Organisation aufzubauen, ohne irgendwelche Erfahrung in dem Bereich, aber ich habe getan, was ich konnte. Damals verbrachte ich 48 Stunden mit Freiwilligenarbeit, ohne zu schlafen.” Mittlerweile ist das nicht mehr nötig, da das Team, das am Bahnhof arbeitet, Zuwachs bekommen hat. Die neuen Helfer sind internationaler als zuvor: Leute aus Polen, England, den USA, selbst Australien und Neuseeland kommen zum Helfen nach Lwiw. „Nur Deutsche habe ich bisher kaum gesehen”, sagt einer der Helfer.

Valentyn Bordun leitet die Hilfsorganisation Ptaha am Lwiwer Hauptbahnhof. Am Anfang des Krieges arbeitete er manchmal 48 Stunden ohne Schlaf durch.
Valentyn Bordun leitet die Hilfsorganisation Ptaha am Lwiwer Hauptbahnhof. Am Anfang des Krieges arbeitete er manchmal 48 Stunden ohne Schlaf durch. © Leonard Hennersdorf

Die Arbeit der Freiwilligen ist vor allem sozialer Natur. Es geht vor allem darum, den Geflüchteten so schnell wie möglich Wohnungen und Unterkünfte zu vermitteln. Aber dabei stößt die Organisation immer wieder auf große Probleme: Denn insbesondere in Lwiw ist der Wohnraum durch die vielen Geflüchteten aus dem Osten der Ukraine knapp geworden. Manchmal komme es vor, sagt Bordun, dass Familien auch bei ihnen im Bahnhof untergebracht werden müssten. Das führt zu weiteren Schwierigkeiten: Im Winter müssen die Räumlichkeiten ständig beheizt werden, was zu hohen Kosten führt.

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Leben auf engen Raum

Laut der Internationalen Organisation für Migrationsforschung sind ein Drittel der Binnenflüchtlinge in der Ukraine auf der Suche nach einer festen Unterkunft. Die meisten kommen zunächst in temporären Unterkünften unter, wie sie in hoher Zahl seit Beginn der Invasion in Lwiw und Umgebung entstanden sind. Und dabei wird auch improvisiert, wie die Unterkunft im ehemaligen Sanatorium zeigt, in der Alina Fjodoriwna und die anderen Flüchtlinge leben. „Wir haben hier alles renoviert. Es gab hier noch nicht einmal Fenster”, sagt Igor, der Leiter der Unterkunft. Eigentlich sollen Leute hier nur vier Wochen unterkommen, um dann in bessere Unterkünfte zu kommen oder auch nach Polen oder andere Länder Westeuropas. Doch häufig mussten sie so hastig fliehen, dass ihnen Dokumente fehlen, die neu ausgestellt werden müssen und das kann dauern.

Die enge Situation in den Unterkünften bedeutet neuen Stress für die häufig traumatisierten Menschen: Alina Fjodoriwna und ihre zwölfjährige Tochter leben im Sanatorium zusammen mit einer weiteren Familie in einem Raum. „Leider gehen bei uns Krankheiten um. Die Kinder sind blass und haben Husten, Schnupfen und Halsschmerzen”, berichtet sie über die Situation in der Unterkunft. Doch sie weiß, dass eine Verbesserung der Situation in nächster Zeit unrealistisch ist: „Wir sind schon froh, dass wir nicht auf der Straße sind.”

In einem ehemaligen Sanatorium kommen die Binnengeflüchteten in Mehrbettzimmern unter.
In einem ehemaligen Sanatorium kommen die Binnengeflüchteten in Mehrbettzimmern unter. © Johann Stephanowitz

Für sie gibt es gerade dringendere Probleme, wie dass ihre Tochter hier in Lwiw endlich wieder zur Schule gehen kann. “Doch das ist sehr schwierig”, sagt sie. “Es wird eine Menge Geld kosten für Schulessen, Kleidung und anderes, was wir nicht haben. Wir kamen hier nur mit dem an, was wir am Körper tragen und ich habe gerade kein Geld. Also es ist einfach unrealistisch, dass meine Tochter zur Schule geht.”

Fjodoriwnas Worte spiegeln die Situation vieler Binnengeflüchteter, die gerade aus dem Osten der Ukraine nach Lwiw kommen. Ja, sie sind in Sicherheit und haben ein Dach über dem Kopf, doch angekommen fühlen sie sich nicht. Für sie ist klar: wenn der Krieg vorbei ist, wenn endlich Frieden herrscht, will sie zurück in ihre Heimat Pokrowsk. Den Schlüssel ihrer Wohnung dort trägt sie immer bei sich. Ob sie noch steht?

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt