Tschassiw Jar. An der Ostfront in der Ukraine riskieren Freiwillige ihr Leben, um Menschen zu versorgen – oder um sie in Sicherheit zu bringen
Die alte Frau quält sich aus ihrem Haus, gestützt auf ihren Stock und den Arm von Evgeny Tkachov. Ihre Habseligkeiten liegen schon auf der Ladefläche des verbeulten Pickups, mit dem der Helfer in ihr Dorf gekommen ist, um sie abzuholen und in Sicherheit zu bringen. Plötzlich knallt es laut. Ein ukrainisches Artilleriegeschütz muss ganz in der Nähe sein. Die Front hat sich schon nah an Tarasivka herangefressen. Alla Vilchinska schaut auf ihre Straße, auf die zerstörten Häuser. Ihre beiden Hunde bellen. Sie winkt ihnen zu, fängt an zu weinen. Es ist wahrscheinlich ein Abschied für immer.
Eine Stunde vorher parkt Evgeny Tkachov seinen Wagen an einer Tankstelle in Kostjantyniwka, einer Kleinstadt in der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und voller Soldaten. Die intensivsten Kämpfe an der Ostfront toben nur wenige Kilometer entfernt. Regelmäßig schlagen in der Stadt russische Raketen ein. Dutzende Zivilisten sind bereits gestorben. Tkachov will das Leben von Zivilisten retten. Er ist Chef von Proliska, einer Freiwilligenorganisation, die sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschen aus umkämpften Gebieten zu retten.
Heute geht es nach Tarasivka. Es ist eine riskante Mission. „Gestern war die Front etwa drei Kilometer von dem Dorf entfernt, heute ist sie vielleicht näher dran.“ Er wirkt gelassen, die Fahrt in eine Gefahrenzone ist für ihn nichts Neues. Seit dem Beginn der Feindseligkeiten im Donbass vor zehn Jahren, als prorussische Separatisten mit der Unterstützung Moskaus Kiew den Krieg erklärten, bringt Tkachov Menschen in Sicherheit. Bis zu 6000 waren es in den vergangenen zehn Jahren.
Je weiter es Richtung Süden geht, desto leerer werden die Straßen
Tarasivka liegt an einem Frontabschnitt, an dem die russischen Streitkräfte seit Wochen massiv drücken. Ziel der russischen Militärführung sind die Eroberungen der strategisch wichtigen Städte Tschassiw Jar und Pokrowsk. Der Angriffsdruck hat auch nach dem ukrainischen Einmarsch in Russland an diesem Abschnitt nicht nachgelassen. „Wir erleben einen weiteren Höhepunkt der russischen Offensive. Die Situation eskaliert, die Russen zerstören alle Dörfer und Städte nahe der Front. Sie zerbomben alle Gebäude, in denen Verteidiger sitzen können“, erklärt Tkachov.
Je weiter es Richtung Süden geht, desto leerer werden die Straßen. Irgendwann tauchen in den Feldern Befestigungsanlagen auf. Schützengräben, Bunker, kleine weiße Betonpyramiden. Diese „Drachenzähne“ sollen gepanzerte Fahrzeuge aufhalten. Stacheldraht blitzt in der Sonne auf. Die Verteidigungslinie ist erst vor Kurzem errichtet worden. Die Russen stehen schon direkt bei Vozdvizhenka, dem übernächsten Dorf vor Tarasivka. Es scheint verrückt, dass sich noch immer Zivilisten in dieser Gegend aufhalten. Aber Tkachov kann sie verstehen.
Mehr Reportagen von Kriegsreporter Jan Jessen
- Israel und Gaza seit Hamas-Angriff: Am Morgen bricht die Hölle auf
- Christ aus Beirut berichtet: „Es bricht einem das Herz“
- Syrer bewachen deutsche IS-Terroristen: „Niemand hilft uns“
- Syrien: Im Camp der „Höllenfrauen“ hofft man auf die Wiedergeburt des IS
- Terroristen im Lager: In al-Hol wächst eine neue Generation des Hasses heran
„Das sind meistens alte Leute. Sie wissen, dass sie sich keine neue Küche oder neuen Fernseher kaufen können, weil ihre Renten zu klein sind. Sie halten oft bis zum allerletzten Moment aus. Manchmal leider auch länger.“ Der Pick-up rumpelt über die Dorfstraße von Tarasivka. Die meisten Häuser links und rechts sind Ruinen. Tkachov parkt, steigt aus, hämmert an ein Metalltor. „Evakuierung, Evakuierung!“ Hier wohnt Alla Vilchinska. Von den 325 Dorfbewohnern sind nur neun geblieben. Heute verlässt die 75-Jährige ihr Zuhause, in dem sie fast drei Jahrzehnte gelebt hat.
Alte Dame im Ukraine-Krieg: „Ich hätte nie gedacht, dass mein Leben so endet“
Zwei Männer helfen dabei, ihre Habseligkeiten auf die Ladefläche des Pick-ups zu hieven. Es sind Freunde ihres Sohnes, der vor zwei Wochen gestorben ist. Er ist abends ins Bett gegangen und nicht mehr wach geworden, niemand weiß, warum. Ihr Mann ist schon vor einigen Jahren gestorben. „Ich lasse hier meinen Mann zurück, meinen Sohn, meine Hunde“, schluchzt Vilchinska, als sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat. Sie hatten ein ruhiges Leben in Tarasivka. Der Garten, die Schafe, die Kühe. Sie schüttelt ungläubig den Kopf. „Ich hätte nie gedacht, dass mein Leben so endet.“
Was die alte Frau zusätzlich verzweifeln lässt, ist, dass ihre Tochter und die Enkelkinder in Donezk leben, der Großstadt, die nur 90 Kilometer entfernt liegt, aber dennoch unerreichbar ist. Die Stadt wird seit zehn Jahren von prorussischen Separatisten beherrscht, auf direktem Weg kommt man dort nicht hin. Ihr sei es egal, ob sie in der Ukraine oder in Russland lebe, sagt, sie wolle nur mit ihrer Familie zusammen sein. „Kann ich nicht über Tschassiw Jar dahinfahren? Jemand muss sich doch um mich kümmern“, fragt sie Tkachov. Der schaut sie erstaunt an. „Babuschka, weißt du nicht, was in Tschassiw Jar gerade passiert? Tschassiw Jar ist wie die Hölle.“ Evgeny Tkachov bringt sie zu einer Sammelunterkunft in Kostjantyniwka. Seine Mission ist erfüllt. Alla Vilchinska wird in den kommenden Tagen mit einer anderen Organisation weiter in den Westen der Ukraine reisen.
Lesen Sie auch: Habeck versichert, Ukraine-Verpflichtung „ohne Wenn und Aber“ – Auch bei Trump-Sieg
Die ukrainischen Behörden rufen Zivilisten immer wieder eindringlich dazu auf, die Ortschaften zu verlassen, auf die die Front zurollt. Denjenigen, die dennoch bleiben, helfen Freiwillige, die dabei wie Tkachov nicht selten ihr Leben riskieren. Auch in Tschassiw Jar leben noch einige Hundert Menschen. Die Stadt nordöstlich von Kostjantyniwka ist nur noch eine Ruinenlandschaft, im Osten haben sich russische Streitkräfte festgesetzt. Täglich explodieren Raketen und Gleitbomben in den Trümmern.
Bürgermeister: „Ich habe einen unbändigen Hass auf Russen. Sie haben uns alles genommen“
Am Tag vor der Rettungsmission in Tarasivka macht sich Serhii Chaus zusammen mit seinem Freund Ruslan auf den Weg nach Tschassiw Jar. Die beiden sitzen in einem uralten Geldtransporter, der irgendwie den Weg aus Deutschland in die Ukraine gefunden hat, geladen haben sie Brot. Chaus ist der Bürgermeister von Tschassiw Jar. Er ist in dem Stadtviertel im Osten aufgewachsen, das jetzt von den Russen besetzt ist. „Wir haben gesehen, wie unsere Stadt Tag für Tag mehr zerstört worden ist. Wir sehen, wie sie langsam zerfällt“, erzählt er, als er den Transporter über die Straße manövriert.
Jetzt fahren er und sein Freund jede Woche mehrmals in die umkämpfte Stadt, um den verbliebenen Menschen Lebensmittel oder Medikamente zu bringen und um zu erfahren, was geschieht. Es ist das Einzige, was sie für die Menschen in der Stadt noch tun können. Chaus sagt, er habe einen unbändigen Hass auf die Russen, die sein Zuhause in Schutt und Asche gebombt haben. „Das ist ein Gefühl, das ich noch nie verspürt habe. Aber sie haben uns alles genommen.“
Kurz vor Tschassiw Jar hält Chaus an, es ist Zeit, Schutzwesten und Helme anzuziehen. Er schaltet einen Apparat an, der am Armaturenbrett befestigt ist. Es ist ein Gerät zur elektronischen Abwehr von Drohnen. „Damit wir sicherer sind“, sagt er. Am Stadtrand parkt Chaus den Transporter. Ein klappriger Lada kommt angefahren, ein Mann steigt aus, Panzerkette um den Hals, goldene Zahnkronen, Schlappen. „The Future is Female“ steht auf seinem T-Shirt. Er ist einer der wenigen Zivilisten in der Stadt, mit Journalisten möchte er nicht sprechen. Chaus und sein Freund geben ihm die Pakete mit den Broten, sie reden kurz. Dann fährt der Mann zurück in die Hölle.