Ankara/Athen. Nach dem Anschlag von Ankara schauen alle auf den inhaftierten PKK-Chef Öcalan. Er soll in Gesprächen mit dem türkischen Geheimdienst sein.
Die türkische Regierung vermutet die verbotene kurdische Terrororganisation PKK hinter dem Anschlag auf eine Rüstungsfirma in Ankara. Beide Attentäter wurden von der Polizei getötet. Einer von ihnen sei als PKK-Mitglied identifiziert worden, teilte der türkische Innenminister am Donnerstag mit. Was bedeutet das Attentat für die Bemühungen um eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts?
Es war der tödlichste Terroranschlag in der Türkei seit fast zwei Jahren: Fünf Menschen starben, 22 wurden verletzt, als am Mittwochnachmittag zwei schwerbewaffnete Angreifer auf das Firmengelände des Rüstungsunternehmens Turkish Aerospace Industries (TUSAS) vordrangen, einen Sprengsatz zündeten und mit Sturmgewehren um sich schossen. Die Polizei tötete die beiden Attentäter, einen Mann und eine Frau. Über die Nachforschungen dringt nur wenig an die Öffentlichkeit, weil die Behörden eine Nachrichtensperre verhängt haben.
Was dafür spricht, dass die PKK den Anschlag verübt hat
Bisher hat sich niemand zu der Tat bekannt. Für den türkischen Innenminister Ali Yerlikaya trägt der Anschlag die Handschrift der kurdischen Terrororganisation PKK. „Die Art des Angriffs zeigt, dass es höchstwahrscheinlich die PKK war“, sagte Yerlikaya vor der Presse. Am Donnerstag teilte er dann auf der Plattform X (ehemals Twitter) mit, man habe einen der Attentäter als PKK-Mitglied identifiziert. Auch Verteidigungsminister Yasar Güler machte die PKK für das Attentat verantwortlich: „Wir lassen den PKK-Schurken jedes Mal die Strafe zuteilwerden, die sie verdienen, aber sie kommen nicht zu Vernunft“, sagte Güler.
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Bereits wenige Stunden nach dem Terroranschlag begannen die türkischen Luftstreitkräfte mit Angriffen auf mutmaßliche Stellungen der PKK. Kampfflugzeuge griffen mit Bomben und Raketen Ziele in den Kandil-Bergen im Nordirak an. Hier befinden sich das militärische Hauptquartier und Trainingslager der PKK. Die Streitkräfte flogen auch Angriffe auf Stellungen der syrischen Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien. Sie gilt als Ableger der PKK. 32 „terroristische Ziele“ seien zerstört worden, teilte das türkische Verteidigungsministerium mit. Zu Opfern der Luftangriffe gab es zunächst keine offiziellen Angaben. „Unsere Luftangriffe werden entschlossen fortgesetzt“, hieß es in der Mitteilung des Verteidigungsministeriums.
Das Ziel des Terroranschlags vom Mittwoch, das staatliche Luft- und Raumfahrtunternehmen TUSAS, hat hohe symbolische Bedeutung. Innenminister Yerlikaya bezeichnete es als den „Augapfel“ der türkischen Verteidigungsindustrie. Das Unternehmen beschäftigt 10.000 Mitarbeitende und arbeitet unter anderem am ersten eigenständig entwickelten Kampfflugzeug der Türkei, dem Tarnkappenjet Kaan (Herrscher). TUSAS produziert auch Satelliten, Hubschrauber und Drohnen. Die Erzeugnisse der staatlichen Waffenschmiede werden unter anderem im Kampf gegen die PKK im Nordirak und die Kurdenmiliz YPG in Syrien eingesetzt. Das könnte tatsächlich dafür sprechen, dass die PKK hinter dem Terroranschlag steckt.
Die Rolle von PKK-Chef Öcalan wird immer wichtiger
Auch der Zeitpunkt des Attentats deutet darauf hin. In den vergangenen Tagen war unerwartet Bewegung in die Bemühungen um eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts gekommen. Der Führer der ultra-nationalistischen Partei MHP, Devlet Bahceli, hatte überraschend eine mögliche Freilassung des seit 25 Jahren inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan ins Spiel gebracht. Bedingung sei, dass Öcalan dem Terror abschwöre und sich die PKK entwaffne. Bahcelis MHP regiert in einer Koalition mit der islamisch-konservativen AKP von Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Auch Erdogan machte in den vergangenen Tagen den Kurden Avancen. Er sagte: „Wir sind immer offen für friedliche Lösungen.“ Damit zeichnet sich möglicherweise ein neuer Annäherungsprozess in der Kurdenfrage ab. Der Konflikt begann vor 40 Jahren mit der Aufnahme des bewaffneten Kampfes der PKK und hat seither fast 50.000 Tote gefordert. Der letzte Anlauf zu einer Friedenslösung war 2015 gescheitert.
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Politiker der pro-kurdischen Partei DEM reagierten bisher verhalten positiv auf die neue Entwicklung, nicht hingegen die militärische Führung der PKK. Sie will offenbar am bewaffneten Kampf festhalten. Möglich, dass die Hardliner mit dem Angriff auf das Rüstungsunternehmen den sich abzeichnenden Friedensprozess zu torpedieren versuchen, bevor er überhaupt in Gang kommt.
Allerdings ist die PKK militärisch durch die seit Jahren andauernden Angriffe des türkischen Militärs auf ihre Schlupfwinkel im Nordirak stark geschwächt. Im Norden Syriens kontrolliert ihr Ableger YPG zwar einige Gebiete. Aber die Zeiten, als die PKK in der Südosttürkei ganze Landstriche unter ihrer Kontrolle hatte, wie Ende der 1980er Jahre, sind unwiederbringlich vorbei. Zu Terroranschlägen wie jetzt in Ankara ist die Organisation allerdings immer noch in der Lage, weil sie über genug fanatisierte Kämpfer verfügt, die solche Himmelfahrtskommandos ausführen.
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Immer wichtiger wird nun die Rolle von PKK-Chef Öcalan. Der 75-Jährige gilt auch nach 25 Jahren Haft als unumstrittener Führer der PKK, sein Wort hat Gewicht. Er hat zwar seit 44 Monaten keinen Kontakt mehr zu seinen Anwälten. Insider berichten aber, dass er hinter den Kulissen in Gesprächen mit dem türkischen Geheimdienst sei. Erstmals seit viereinhalb Jahren durfte Öcalan am Mittwoch Besuch von seinem Neffen, dem Kurdenpolitiker Ömer Öcalan, empfangen. Auch das gilt als wichtiges Signal. Sicher ist: Eine Begnadigung Öcalans und eine mögliche Freilassung inhaftierter Kurdenpolitiker würden eine neue Dynamik in die Bemühungen um eine friedliche Lösung der Kurdenfrage bringen.
Letztlich wird es aber darauf ankommen, welche politischen und kulturellen Rechte die Regierung den rund 15 Millionen Kurdinnen und Kurden in der Türkei einräumen will. Dazu haben sich Erdogan und Bahceli bisher nicht geäußert.