Berlin. Peter Neumann erklärt im Interview, wie der Dschihadismus in Deutschland wieder erstarken konnte – und was der Staat jetzt tun muss.
Peter Neumann forscht am King‘s College London zu Terrorismus und Radikalisierung und beobachtet seit langem die islamistische Szene. Was er derzeit sieht, alarmiert ihn.
Herr Neumann, vor Kurzem erst gab es die Anschlagspläne auf ein Taylor-Swift-Konzert in Wien, jetzt das Attentat von Solingen. Erleben wir gerade eine neue Welle des dschihadistischen Terrors?
Peter Neumann: Ich glaube, dass wir am Beginn einer neuen dschihadistischen Welle stehen, das beschreibe ich auch in meinem aktuellen Buch. In den letzten elf Monaten haben wir ein viel höheres Ausmaß von dschihadistischer Aktivität gesehen als vorher. Einschließlich Solingen sieben durchgeführte und einundzwanzig versuchte oder vereitelte Anschläge in Westeuropa – im Vergleich zu 2022 ist das eine Vervierfachung. Die Einschläge werden häufiger, und sie kommen näher. Jetzt ist noch der Zeitpunkt, wo man eine große Terrorwelle abwenden kann. Aber das setzt voraus, dass man die Bekämpfung wieder zur Priorität macht. Die Frage ist, wie schnell wir uns jetzt fokussieren können.
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Woher kommt dieser Anstieg?
Der IS war, obwohl er in seinem Kerngebiet in Syrien und Irak besiegt war, nie ganz verschwunden. Virtuell war er weiter da. Und die Terroroffensive der Hamas gegen Israel am 7. Oktober war ein riesiger Motivationsschub. Es gab auch vorher weiterhin salafistische Netzwerke in Europa, aber die waren, nachdem der IS besiegt war, ziemlich deprimiert und wussten nicht so recht, wohin mit sich. Dann kam der 7. Oktober: Es gab plötzlich wieder ein Projekt, an das man sich dranhängen konnte. Es geht ihnen nicht um Palästina, es geht im Prinzip um einen globalen Religionskrieg – nicht nur gegen Juden, sondern gegen alle aus ihrer Sicht Ungläubigen. Deswegen auch der Bezug in der Stellungnahme des IS zu Solingen: Das ist Propaganda. Damit versucht der IS zu signalisieren, dass er für dieses Thema kämpft, obwohl es vor Ort überhaupt keine Rolle spielt.
Die Situation im Gaza-Streifen hat also direkte aus Auswirkungen auf die Sicherheitslage hier?
Absolut. Seit dem 7. Oktober gehen die Zahlen wieder steil nach oben. Der 7. Oktober ist zwar nicht die Ursache für alles, was jetzt passiert. Aber er ist der Kristallisationspunkt.
Gibt es Unterschiede zu Terror-Wellen in der Vergangenheit, etwa in den 2010er-Jahren?
In der 2010er-Jahen hatte die Mobilisierung viel mit dem Konflikt in Syrien zu tun, das ist jetzt kein großes Thema mehr. Was auch anders ist: Der stärkste Ableger des IS kommt aus Afghanistan. Das ist der Islamische Staat Provinz Khorasan, ISPK, eine Gruppe, die in den letzten zwei, drei Jahren immer aktiver und aggressiver geworden ist. Und was auch neu ist: Die Leute werden immer jünger. Zwei Drittel der Tatverdächtigen sind Teenager, zum Teil noch fast Kinder, 13, 14, 15 Jahre alt. Und sie haben sich fast ausschließlich über die sozialen Medien radikalisiert.
Sie haben in Vergangenheit von ‚TikTok-Dschihadisten‘ gesprochen. Was meinen Sie damit?
Es geht nicht nur um TikTok, es geht um alle sozialen Plattformen. Aber TikTok ist symbolisch wichtig, weil sich die Plattform an sehr junge Menschen richtet und weil sie am konsequentesten das betreibt, was man algorithmische Amplifizierung nennt. Wenn du einmal auf einen Islamisten draufklickst, kriegst du nur noch Islamisten präsentiert. Du musst dir überhaupt keine Mühe mehr geben, diese Inhalte zu finden. Dir werden andere Extremisten nonstop geliefert.
Und in einigen Fällen werden die Leute dann nach einer Anfangsradikalisierung auf TikTok rübergezogen zu Telegram. Das ist die Plattform, die bei der operativen Planung die wichtigste Rolle spielt. In virtuellen Zellen werden da am Anfang vor allem Videos ausgetauscht, und irgendwann dreht sich die Unterhaltung in Richtung ‚Wollen wir nicht auch einmal etwas machen?‘. Aus so einer Konstellation sind viele Anschläge in den letzten elf Monaten entstanden.
Der mutmaßliche Täter von Solingen ist 26 – er passt demnach nicht in dieses häufige Täterprofil.
Das stimmt. Aber immerhin ein Drittel der Verdächtigen sind keine Teenager. Es wird interessant sein, wie eng seine Verbindung zum IS war, ob er in Syrien Kontakt hatte oder ob erst in Deutschland eine Radikalisierung stattgefunden hat.
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Wie können die Sicherheitsbehörden auf diese Sicherheitslage reagieren?
Es ist wichtig, dass dieses Thema wieder priorisiert wird. Sicherheitsbehörden müssen sich überlegen, welche Änderungen nötig sind – im Jugendstrafrecht, aber auch bei der Prävention. Die Behörden müssen auch viel stärken im virtuellen Bereich aktiv sein. Zum Beispiel mit virtuellen Agenten, die Plattformen wie Telegram infiltrieren, so wie ein Undercover-Polizist eine radikale Moschee infiltrieren würde. Und es wird eine Debatte geben über Migration und Integration.
Es gibt Leute, die hier schlecht integriert sind. Da haben wir grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder wir erhöhen die Integrationsanstrengung, um dafür zu sorgen, dass diese Leute nicht abdriften. Dann müssen wir sehr viel mehr tun. Oder wir sagen, das schaffen wir nicht. Dann müssen wir die Konsequenzen ziehen und sagen, wir können nicht so viele Menschen aufnehmen. Das ist die große Entscheidung, die die Gesellschaft treffen muss.
Tatsächlich gesprochen wird vor allem über Waffenverbotszonen und die Klingenlänge von Messern…
Das geht komplett am Thema vorbei. Der IS sagt selbst, es ist uns egal, wie ihr die Ungläubigen umbringt. Wenn es nicht das Messer ist, dann fahrt ein Auto in eine Menge, oder legt Feuer. Es wäre schade, wenn man die Aufmerksamkeit, die jetzt da ist für das Thema, mit so einer Scheindebatte verschwendet. Es geht nicht um das Messer. Es geht darum, was in den Köpfen ist.
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