Moskau. Korruption, Inflation, Armut. Jetzt soll Russland auch noch „Stimmenkauf in gigantischem Ausmaß“ vorgenommen haben, sagt die Wahlsiegerin.
Wohin die Reise gehen soll? Für die 27-jährige Softwareentwicklerin Alina aus Moldaus Hauptstadt Chisinau ist die Sache klar: „Europa natürlich!“, sagt sie unserer Redaktion. Das würde Wohlstand in das bettelarme Land bringen. „Ich würde mir wünschen, dass hier jeder die Möglichkeit hätte, das gleiche gute Geld zu verdienen wie im Ausland. Damit wir uns hier weiterentwickeln können.“
Doch längst nicht alle Moldauer wollen in die EU. Bei den Präsidentschaftswahlen am Sonntag gewann zwar mit der proeuropäischen Amtsinhaberin Maia Sandu die Favoritin. Dennoch drohte ein von ihr initiiertes Referendum zu scheitern. Parallel zur Wahl sollten die rund 2,5 Millionen Einwohner Moldaus darüber entscheiden, ob der Beitritt der früheren Sowjetrepublik zur Europäischen Union als Ziel in der Verfassung verankert wird. Erst nach Auszählung der Stimmen der im Ausland lebenden Moldauer wurde das Referendum wohl mit hauchdünner Mehrheit angenommen. Trotzdem: Das Ergebnis ist ein Rückschlag für Sandu. Laut dem früheren moldauischen Außenminister Nicu Popescu schwächt es sowohl die moldauischen Behörden im Zuge ihrer Verhandlungen mit den westlichen Partnern als auch Staatspräsidentin Sandu selbst.
Sandu erhielt mit 42,3 Prozent nach Auszählung fast aller Stimmen erwartungsgemäß eine relativ klare Mehrheit. Sie muss aber am 3. November in die Stichwahl gegen den Zweitplatzierten, den von den prorussischen Sozialisten unterstützten früheren Generalstaatsanwalt Alexandr Stoianoglo. Er erhielt unerwartet 26,7 Prozent aller Stimmen. Und selbst der Drittplatzierte, der prorussische Unternehmer und frühere Kommunalpolitiker Renato Usatii, fuhr ein zweistelliges Ergebnis ein.
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Moldau: Viele sind nicht von der EU überzeugt
Maia Sandu ist das Symbol des Wandels. Als Präsidentin hat die 52-Jährige Moldau auf Kurs Richtung EU gebracht. Seit dem russischen Einmarsch in die benachbarte Ukraine vor zweieinhalb Jahren setzt sie sich dafür ein, dass der Westen ihr Land unterstützt und die Angst ernst nimmt, Moldau könnte das nächste Ziel des Kremls sein. Kritiker Sandus werfen ihr vor, die Interessen des Westens zu vertreten und darüber zu versäumen, die angeschlagene Wirtschaft und die hohe Inflation in den Griff zu bekommen oder Justizreformen voranzutreiben. Die moldauische Regierung versuchte, bei der Energieversorgung unabhängiger von Russland zu werden, weshalb die Preise in die Höhe schnellten. Moldau ist eines der ärmsten Länder Europas.
Viele Menschen in Moldau sind nicht von Sandus EU-Kurs überzeugt. Vasile beispielsweise, der Rentner, möchte am liebsten mit allen Seiten gute Beziehungen haben. „Denn früher, als wir gute Beziehungen zu Russland hatten, waren das Gas und der Strom billiger. Und unser Obst ging nach Russland. Aber was nun?“ Viele Bauern, so erzählt es Vasile unserer Redaktion, hätten bereits ihre Obstgärten aufgegeben. „Trauben, Wein, sie wissen nicht, wohin sie das schicken sollen. In Europa gibt es Frankreich und Italien, die den Markt beherrschen, aber den Wein aus Moldau brauchen sie nicht.“ Diese Ängste teilt die 59-jährige Angela, Inhaberin eines Ladengeschäftes, nicht. „Ich bin für die EU, weil die EU eine sehr große Bevölkerung hat und nur alle zusammen stärker sein können als Russland. Und ich möchte auch bei dieser starken Kraft sein.“
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Lange Anreisen und lange Warteschlangen sorgten für Unmut
Zwischen der proeuropäischen Regierung Moldaus und dem Moskauer Kreml herrscht Eiszeit – auch am Wahltag. Nur zwei Wahllokale öffnete Moldaus Botschaft in ganz Russland für die Moldauer dort. Wohl aus Angst vor zu vielen prorussischen Stimmen, vermuten manche. Früher seien es 17 gewesen, so die Nachrichtenagentur Interfax. Lange Anreisen und lange Warteschlangen sorgten für Unmut unter den Moldauern, die in Russland leben. Umgekehrt werfen Moldaus Behörden dem Kreml Wahlmanipulation und sogar die Bestechung von Wählern vor.
Präsidentin Sandu selbst erhob schwere Vorwürfe gegen Russland, warf dem Kreml Stimmenkauf in gigantischem Ausmaß vor. Es gebe Beweise, wonach 300.000 Stimmen gekauft worden seien, sagte sie. „Wir haben es mit einem beispiellosen Angriff auf die Freiheit und die Demokratie in unserem Land zu tun.“ Das wiederum wollte der Kreml in Moskau nicht auf sich sitzen lassen. Kremlsprecher Dmitri Peskow forderte Sandu auf, diese Beweise vorzulegen. Das seien „ziemlich schwere Vorwürfe“, so Peskow vor Journalisten. „Wenn sie sagt, dass sie wegen irgendwelcher krimineller Banden zu wenig Stimmen bekommen hat, sollte sie die Beweise vorlegen.“
Kurswechsel in Moldau: Seit Juni führt die EU mit dem Land Beitrittsgespräche. Doch der Weg nach Europa ist noch weit. Zum einen wird die moldauische Provinz Transnistrien von prorussischen Separatisten beherrscht, dort sind auch russische Truppen stationiert. Die Zukunft von Transnistrien ist unklar. Zum anderen ist Moldau von einem funktionierenden Rechtsstaat, Bedingung für einen EU-Beitritt, noch meilenweit entfernt. Korruption sei das Hauptproblem, sagt der Soziologe Vasile Cantarji. „Es handelt sich nicht nur um gewöhnliche Korruption, Bestechungsgelder, die etwa von einem Polizisten oder einem Arzt verlangt werden.“ Das ganze Parteiensystem sei korrupt, eine politische Partei in Moldau finanziere sich nicht durch Beiträge ihre Mitglieder. „Die Hauptfinanzierungsquelle ist das Großkapital. Um die politische Macht zu übernehmen, muss man vom Großkapital finanziert werden.“