Berlin. Kevin Macdonald („Der letzte König von Schottland“) hat den Ex-Boxer in der Ukraine gefilmt und eine zentrale Eigenschaft ausgemacht.

Mit dem Film „Der letzte König von Schottland“ feierte Regisseur Kevin Macdonald einen Riesenerfolg, er wurde mit dem Oscar und etlichen weiteren Preisen ausgezeichnet. Macdonalds Spezialgebiet: tiefe Porträts von starken Persönlichkeiten. Nun hat er sich ein besonderes Duo vorgenommen – sein Film „Klitschko – Der härteste Kampf“ über die berühmten ukrainischen Brüder Vitali und Wladimir ist seit Freitag bei Sky und bei WOW zu sehen. Im Interview verrät der 56-Jährige, was der Krieg mit ihm persönlich gemacht hat – und wie er die Beziehung zwischen Vitali Klitschko und Wolodymyr Selenskyj beschreiben würde.

Mr. Macdonald, Herr Macdonald, Sie haben viele Filme über große Persönlichkeiten gemacht. Warum haben Sie sich entschieden, einen Film über die Klitschko-Brüder zu machen?

Kevin Macdonald: Ich bin kein Boxfan, also hatte ich sie nicht so sehr auf dem Schirm. Aber ich wollte einen Film über die Ukraine und den Krieg machen, den ich für sehr ungerecht halte. Ich stehe in diesem Konflikt absolut auf der Seite der Ukraine. Ich wollte keinen Film machen, der nur von ein paar Geopolitik-Nerds gesehen wird. Es sollte ein Film für ein breiteres Publikum sein, der den Menschen hilft, die Geschichte des Konflikts zu verstehen. Mit zwei weltweit bekannten und beliebten Sportlern sollte das möglich sein, das war mein Gedanke.

Was war das Wichtigste, was Sie gelernt haben, als Sie Vitali Klitschko als Politiker kennenlernten?

Macdonald: Womöglich kenne ich Vitali als Mensch besser als den Politiker Vitali Klitschko. Als Person ist er mir zunächst als ein Mann der wenigen Worte aufgefallen. Er hat eine einschüchternde Ausstrahlung. Aber er ist auch jemand, der einem gelegentlich ein unglaublich charmantes und warmes Lächeln schenkt. Er ist ein sehr warmherziger und intelligenter Mann, der meiner Meinung nach von vielen Menschen unterschätzt wird.

Zur Person: Kevin Macdonald

Der Regisseur (Jahrgang 1967) wurde im schottischen Glasgow geboren. Er arbeitet als Drehbuchautor, Produzent und Regisseur. Sein Schwerpunkt sind Dokumentationen und Porträts, darunter „Ein Tag im September“ über die Geiselnahme israelischer Sportler bei den Olympischen Spielen von München 1972, sowie der Spielfilm „Der letzte König von Schottland“.

Wie kommt das?

Macdonald: Ein Teil seines Bildes, das man im Film sieht, ist der Mann, dem ständig diese sprachlichen Patzer unterlaufen. Das liegt daran, dass er oft Ukrainisch spricht – dabei ist seine Muttersprache Russisch. So wirkt er ziemlich unbeholfen und manchmal nicht besonders wortgewandt. Im Russischen sieht das ganz anders aus. Ihn zeichnen eine unglaubliche Entschlossenheit und sein Elan im Ring aus. Das zieht sich durch sein Leben: beim Training als Boxer, davor als Kickboxer und jetzt sogar als Bürgermeister. Er setzt sich ein Ziel und gibt nicht auf. Er wird weitermachen, bis er umkippt.

Regisseur Kevin Macdonald: „Wie werden die Menschen das verkraften?“ © Getty Images | Andreas Rentz

Wie oft haben Sie Kiew persönlich besucht, um dort zu drehen?

Macdonald: Wir haben im Laufe des Projekts, das eineinhalb Jahre dauerte, etwa siebenmal in der Stadt gedreht. Das erste Mal kamen wir im November 2022, und die letzten Dreharbeiten fanden im Januar dieses Jahres statt. Ich hatte einen Co-Regisseur, der als Kameramann angefangen hatte, und er konnte mehr Zeit vor Ort verbringen als ich. Insgesamt haben wir etwa zweieinhalb Monate in der Stadt verbracht – eine wirklich lange Zeit.

Was für eine Stadt ist Kiew heute – nachdem sie zweieinhalb Jahre lang angegriffen wurde?

Macdonald: Überraschenderweise geht das Leben einfach weiter. Letzten Sommer haben die Leute noch neue Restaurants eröffnet. Es gab Galerien mit Ausstellungen. Man kann dort wirklich ein sehr schönes Leben führen. Aber natürlich haben immer weniger Menschen Geld, es gibt immer weniger Arbeitsplätze. Die wirtschaftliche Lage ist schrecklich. Mehr und mehr Menschen trauern um geliebte Menschen. Der Krieg berührt jetzt jeden, im ganzen Land.

Ethnografisches Festival in Kiew
Ukrainische Frauen in Nationaltracht probieren auf dem ethnografischen Festival nahe Kiew Kopfbedeckungen an: Das Leben im Land geht weiter, trotz allem. © DPA Images | Efrem Lukatsky

Vor allem die Winter werden im Krieg gefürchtet, die Energieinfrastruktur wird häufig bombardiert...

Macdonald: Als ich im November 2022 das erste Mal dort war, habe ich die Folgen der Bombardierung durch Putin gespürt. Es war überall dunkel und kalt. Es gab nur die Lichter der Autos, und man sah Menschen mit Stirnlampen auf dem Bürgersteig. Ich vermute, dass dies im kommenden Winter wieder der Fall sein wird. Es ist der dritte Winter in Folge. Wie werden die Menschen das verkraften? Der Sinn für Humor und die Entschlossenheit der Menschen in Kiew haben mich beeindruckt. Wenn ich dort war, konnte ich wegen der Luftangriffswarnungen und der ankommenden Raketen nicht mehr als ein paar Stunden pro Nacht schlafen. Man muss die ganze Zeit in den Keller gehen. Das ist die Politik der Russen: die Menschen mürbe zu machen. Nach zehn Tagen fuhr ich jeweils nach Hause und war erschöpft. Ich wollte nur noch schlafen. Und ich dachte an all die Menschen, die ich zurückließ und die diesen schrecklichen Rhythmus weiterführen würden. Das war wirklich erschütternd.

Ein kleiner Junge berichtet bei einer Begegnung mit Klitschko beiläufig, der Balkon seiner Wohnung sei bei einem Angriff weggesprengt worden... Wie haben die Kinder, die Sie beobachtet haben, auf Sie gewirkt?

Macdonald: Die Auswirkungen des Krieges sieht man bei Kindern am deutlichsten. Viele Kinder sind traumatisiert, viele werden ihr ganzes Leben lang davon betroffen sein. Wenn man über einen so langen Zeitraum in einem Kriegsgebiet aufwächst, wird man eine Menge psychischer Schäden davontragen.

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Ein Mann in Ihrem Film sagt, bei einem Angriff würden die Menschen lieber zu Hause bleiben, anstatt Schutz zu suchen – würden Sie zustimmen, dass die Ukrainer furchtlos sind?

Macdonald: Stellen Sie sich vor, Ihr Schlaf wird jede Nacht gestört, und das Ganze ist eine Lotterie – Sie wissen nicht, ob die Rakete Ihr Gebäude treffen wird. Die Zerstörung wird oft nicht durch direkte Treffer verursacht, sondern durch Teile einer abgefangenen Rakete. Es gibt Leute, die sagen, ich bin müde und ich will nicht in den kalten Keller gehen – ich werde ein Risiko eingehen. Das ist nach all dieser Zeit verständlich. Mit Furchtlosigkeit hat das nichts zu tun.

Sky Dokumentation
Filmplakat zum Dokumentarfilm „Klitschko - Der härteste Kampf“: Der Film ist ab 13. September exklusiv auf Sky und WOW zu sehen. © obs | Sky Deutschland

Der Untertitel des Films lautet „Der härteste Kampf“. Klitschko erwähnt, was dieser Kampf für ihn bedeutet – ein Kampf um Werte und das Überleben der Ukraine. Wird Vitali Klitschko diesen Kampf gewinnen?

Macdonald: Wenn ich in den Krieg ziehen würde, gäbe es niemanden, hinter dem ich lieber in die Schlacht ziehen würde als Vitali Klitschko. Er ist ein Kämpfer, der versucht, den Menschen auf seiner Seite zu helfen, aber auch den Feind zu vernichten. Ich würde nicht gegen ihn wetten. Aber wer weiß, was noch in diesem Konflikt geschehen wird? Ob die Ukraine durch die Weigerung der internationalen Gemeinschaft, sie massiv zu bewaffnen, gezwungen sein wird, einen vermeintlichen Friedensvertrag zu akzeptieren? Es ist allein Sache der Ukrainer, zu entscheiden, wann sie genug haben.

Wie, glauben Sie, profitieren die Klitschko-Brüder in dieser Situation von ihrer Boxkarriere?

Macdonald: In einer Szene fahren sie nach Washington D.C., um Senator Lindsey Graham zu treffen, der dann begeistert zwischen diesen beiden Giganten steht. Ich habe das in ganz Amerika gesehen – die Leute haben sie fast als Helden verehrt, die nicht nur eine außergewöhnliche Boxkarriere haben, sondern auch einzigartige, fürsorgliche Brüder sind. Sie sind berühmt, und in unserer Welt kann das sehr nützlich sein. Im Film ziehe ich eine Parallele zwischen einem Boxer und einem Krieger.

Sie haben Vitali Klitschkos Entschlossenheit erwähnt...

Macdonald: Ja, dahinter steckt eine Strategie. Sowohl Vitali als auch Wladimir machen jeden Morgen eineinhalb Stunden Sport. Wir haben ihn im Fitnessstudio gefilmt. Er sagte: „Ich habe mir ein Ziel gesetzt: Ich versuche, 50 Klimmzüge einer bestimmten Art zu machen.“ Das ist sehr schwer, und man muss sehr stark sein. Vitali sagte mir: „Ich dachte, ich könnte nie so viele schaffen.“ Die Übung erfordert eine Menge Kraft. Als er jünger war, in seinen Zwanzigern, habe er nur 10 geschafft. Sein Ziel sind 50. Als wir ihn sahen, war er bei etwa 42. Diese Entschlossenheit, jeden Tag besser und stärker zu werden, hat er sich in seiner Karriere als Politiker bewahrt.

Seine Sprecherin erwähnt, dass Selenskyj in seiner damaligen Fernsehshow systematisch den Ruf von Klitschko zerstört habe. Wie würden Sie als Beobachter das Verhältnis Klitschko-Selenskyj in einem Satz beschreiben?

Macdonald: Ich schaffe es sogar mit nur einem Wort: nicht existent. Es war ein markanter Moment im Film, als wir ihn danach fragten, und er sagte: Ich habe keine Beziehung zu Selenskyj. Ich habe ihn seit Beginn des Krieges nicht mehr gesehen. Und man denkt: Wie ist das möglich – der Bürgermeister der Hauptstadt, vielleicht der zweitwichtigste Politiker, hat sich während des Krieges nicht mit dem Präsidenten getroffen, obwohl sie ein oder zwei Kilometer voneinander entfernt wohnten. Eigentlich wollte ich einen positiven Film über die Ukraine machen, aber ich konnte diesen besonderen Konflikt zwischen beiden Politikern nicht ignorieren. Er ist ein Beispiel dafür, wie Demokratie funktioniert: Zwei Menschen mit völlig unterschiedlichen Ansichten können öffentlich sagen, was sie denken. Sie müssen nicht befürchten, eingesperrt oder erschossen zu werden. Das wäre in Russland undenkbar.

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Die stillen Helden im Krieg

Im Krisenmodus

Haben Sie versucht, mit Selenskyj über Klitschko zu sprechen?

Macdonald: Ja, aber wir haben keine Antwort erhalten. Der Präsident hat eine Menge zu tun. Ich kann ihm nicht einmal verübeln, dass er sich auf dieses Spiel nicht einlassen will.

Was schockiert Sie am meisten am Krieg in der Ukraine?

Macdonald: Die Brutalität und die Zerstörung. Selbst wenn dieser Krieg morgen endet, werden es Milliarden sein, die für den Wiederaufbau des Landes benötigt werden. Der Nihilismus der Russen ist für mich erstaunlich. Sie behaupten, dass sie Befreier sind, aber sie verwüsten und zerstören das Land und lassen es als Ödland zurück. Ihre Haltung scheint die eines verwöhnten Kindes zu sein, das sagt: Ich werde dieses Spielzeug zerstören, damit du es nicht haben kannst – auch wenn ich es nicht benutzen kann, weil es kaputt ist.

Wenn Sie noch einen Film über die Ukraine machen könnten, wovon würde er handeln?

Macdonald: Er würde von den Soldatinnen an der Front handeln. Je mehr Zeit man dort verbringt, je mehr Menschen man gesehen hat, die vom Krieg betroffen sind, desto erschreckender ist es.