Berlin. Putin lässt die Ukraine derzeit massiv angreifen. Menschen in Kiew, Charkiw und Odessa leben in Angst. Tritt eine Wende im Krieg ein?

Die Angriffe Russlands auf die Ukraine haben sich in den vergangenen Tagen deutlich verstärkt. In den großen Städten des Landes wurden wieder vermehrt Wohnhäuser und zivile Infrastruktur getroffen. Handelt es sich um einen Wendepunkt in diesem Krieg? Der Militärexperte Carlo Masala hat dazu eine klare Einschätzung.

Russland greift die Ukraine in diesen Tagen massiv mit Drohnen und Raketen an, selbst mit der Hyperschallrakete Kinschal. Kann man angesichts dieser neuen Angriffswelle von einem Wendepunkt sprechen?

Carlo Masala: Nein, es ist kein Wendepunkt. Die russische Armee hat auch im letzten Jahr und besonders im Winter versucht, die Energieinfrastruktur in der Ukraine zu zerstören und in den Städten Zivilisten zu terrorisieren. Es hat aber durchaus an Intensität zugenommen. Es dürfte auch darum gehen, die Luftverteidigungssysteme der Ukraine zu übersättigen, in dem Sinne, dass die Ukrainer zurückschießen müssen und der Munitionsnachlauf momentan nicht besonders gut funktioniert.

Die Russen peilen einen Punkt an, wo die Luftverteidigungssysteme überfordert sind. Ab da kommen mehr russische Raketen durch, als es in den vergangenen Wochen der Fall war. Warum Putin jetzt auch noch die Kinschal eingesetzt hat, kann ich aber nicht sagen.

Carlo Masala in der ARD-Talkshow 'maischberger' im Studio Adlershof. Berlin, 13.09.2022
Carlo Masala in der ARD-Talkshow 'maischberger' im Studio Adlershof. Berlin, 13.09.2022 © picture alliance / Geisler-Fotopress | Thomas Bartilla/Geisler-Fotopres

Ist das eine realistische Taktik, die Ukrainer so lange schießen zu lassen, bis sie keine Munition mehr haben?

Masala: Die Munition wird ihnen nicht komplett ausgehen. Aber es ist realistisch, dass nicht genug Munition nachkommen kann. Momentan haben wir die Situation, dass die USA nicht liefern werden, weil US-Präsident Joe Biden sein 40-Milliarden-Paket in 2023 nicht durch den Kongress bekommen hat und es unklar ist, ob ihm dies in 2024 gelingen wird.

Zudem ist es in der EU unklar, ob die 50 Milliarden, die für die Ukraine-Hilfe vorgesehen sind, freigegeben werden – trotz der Bekundungen von Bundeskanzler Olaf Scholz und anderen, dass man das schon hinbekommen werde. Es ist von daher nicht so unwahrscheinlich, dass es zu einer Verzögerung bei der Munitionslieferung kommt.

Schon jetzt gibt es vereinzelt Berichte von der Front, dass es knapp ist. Inwieweit die stimmen, kann ich nicht sagen. Zu berechnen, ab wann es knapp ist, halte ich für schwierig. Denn das hängt davon ab, wie gekämpft wird, wie die Munition eingesetzt wird. Eine Vorhersage, wann die Ukraine keine Munition mehr hat, halte ich für unseriös.

Wohnhäuser in Kiew, Charkiw und anderen Städten wurden in den vergangenen Tagen getroffen. Eine Entbindungsklinik wurde zerstört, ein Tesla-Verkaufsraum ging in Flammen auf. Ist das der Versuch, die Ukrainer jetzt wirklich auszubluten?

Masala: Nein, es ist der Versuch, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Die Hoffnung der Russen ist, die ukrainische Bevölkerung kriegsmüde zu machen. Und zwar so sehr, dass sie die Regierung dazu drängt, diesen Krieg zu beenden – sich also in Verhandlungen mit Russland zu begeben oder zu kapitulieren.

Diese Strategie kennen wir aus vielen Kriegen. Allerdings muss man eines sagen: Sie funktioniert nicht. In der Regel führt der Terror gegen die Zivilbevölkerung nicht dazu, dass die Zivilbevölkerung sich gegen ihre eigenen politischen und militärischen Führer stellt. Stattdessen führt das meistens eher zu Solidaritätsbewegungen und einer stärkeren nationalen Einheit.

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