Berlin. Sie beschaffen sich Gewehre, suchen im Darknet nach Pistolen oder drucken sich selbst eine. Eine kleine, gefährliche Waffenkunde.

Emrah I. hätte die Waffe nie besitzen dürfen. Er hätte überhaupt keine Waffe legal kaufen dürfen. Denn gegen den Attentäter von München hatten die österreichischen Behörden nach Informationen unserer Redaktion ein Waffenbesitzverbot verhängt, gültig bis mindestens 2028. Emrah I. hinderte das nicht daran, sich ein Gewehr zu beschaffen, illegal, und mit dem Auto nach München zu reisen. Seine Tatwaffe: mutmaßlich ein altes Repetiergewehr, das schon in der Zeit der Weltkriege zum Einsatz kam. Aufgesetzt auf den Lauf: ein Bajonett.

Ein Islamist mit Bajonett? Was albern klingt, ist für Polizei und Verfassungsschutz bitterer Ernst: Gewaltbereite Extremisten schaffen es immer wieder, für ihre Anschlagspläne an Waffen oder gar Sprengstoff zu kommen – trotz eines anwachsenden Sicherheitsapparats, trotz verschärften Waffenrechts. Wir zeigen, mit welchen Szenarien die Ermittler konfrontiert sind und wie Terroristen an Waffen kommen.

München: Attentäter war 18-jähriger Islamist aus Österreich

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    Massenhafter illegaler Handel – die Waffen aus den Balkankriegen

    Anfang 2015 begann eine Welle von Attentaten durch Dschihadisten in Europa. Eine Terrorzelle tötete im Januar dieses Jahres elf Menschen beim Angriff auf die Redaktion der Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“. Kurz danach griff ein Islamist einen jüdischen Supermarkt in Paris an. Und Ende 2015 erlebte die französische Hauptstadt, wie eine Terrorzelle am Stadion und im Konzertsaal Bataclan ein Massaker mit 130 Getöteten anrichtete. Die Taten waren auch deshalb so schwerwiegend, weil die Extremisten halbautomatische Gewehre nutzten, wie etwa die „Samopal Vz. 58“, ein Produkt der tschechischen Waffenindustrie, das laut Beschreibung mehr als 120 Schuss die Minute abfeuern kann.

    Besorgt haben sich die Terroristen die Waffen auf dem illegalen Markt. Sie sollen ursprünglich ihren Weg aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Westeuropa gefunden haben. Nach Ende der Balkankriege wurde das Gebiet zu einem Reservoir an illegalem Kriegsgerät, vor allem Pistolen und Gewehre. Das nutzten organisierte Kriminelle und Mafia-Gruppen, aber auch Terroristen. Meist über den Landweg und verbaut in raffinierten Verstecken in Autos transportieren Waffenhändler die Ware nach Westeuropa. Trotz zahlreicher Maßnahmen durch europäische Behörden und groß angelegter Programme zur Entwaffnung sind deutsche Behörden noch immer besorgt. Im aktuellen Lagebild zur Waffenkriminalität warnt das Bundeskriminalamt: Der illegale Handel mit „Schusswaffen aus den Westbalkan-Staaten setzt sich fort“.

    In der Ukraine tobt ein Krieg: Im Umlauf sind dort Millionen von Waffen. Das, so befürchten Sicherheitsbehörden, könnten auch Terroristen nutzen.
    In der Ukraine tobt ein Krieg: Im Umlauf sind dort Millionen von Waffen. Das, so befürchten Sicherheitsbehörden, könnten auch Terroristen nutzen. © Unbekannt | Unbekannt

    Und: Auch in anderen Regionen herrscht Krieg, wie in der Ukraine. In Afghanistan sind die Nato-Truppen 2021 übereilt abgezogen, und ließen laut Medienberichten einen Teil ihrer Waffen dort. Verstreut sind die Waffen vom Balkan 30 Jahre nach Ende der Kriege überall in Europa, vor allem in Staaten mit liberalen Waffengesetzen, wie etwa der Schweiz.

    Auch von dort gelangen Pistolen immer wieder in den Umlauf, und über Händler in den Besitz von Gewalttätern. So führen Spuren der benutzten Pistolen der Rechtsterrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ und des islamistischen Attentäters vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, ebenfalls in die Schweiz. Amri tötete mit einer Pistole der Marke Erma, Modell EP 552, Kaliber 22, einen polnischen Lastwagenfahrer, bevor er in die Menge auf dem Weihnachtsmarkt raste.

    Waffen einfach übers Smartphone: das Darknet und die Messengerdienste

    2018 verurteilte das Landgericht Karlsruhe einen Mann zu sechs Jahren Haft. Der Vorwurf gegen den damals 31-Jährigen: fahrlässige Tötung und Körperverletzung sowie Beihilfe zu Waffen- und Drogendelikten. Der Mann hatte eine Plattform im „Darknet“ betrieben, einem großen Teil des Internets, das nur über verschlüsselte Browser zugänglich ist – im Schutz der Anonymität tummeln sich alle möglichen illegalen Händler auf diesen Plattformen. Wer dort auch seine Waffe kaufte: ein 18 Jahre alter Teenager. Im Juli 2016 erschoss er damit am und im Münchner Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen, und dann sich selbst. Der Täter war, so stellten es Gutachten später fest, auch von einer rechtsextremen Ideologie getrieben.

    Was die Ermittler seit einigen Jahren registrieren: Nicht mehr das kryptierte Darknet ist alleiniger Marktplatz für illegale Waffenkäufe – sondern auch verschlüsselte Messengerdienste. Manche Ermittler sagen: Telegram ist das neue Darknet. Pistolen können einfach per Smartphone bestellt werden. Im Oktober 2020 ließ das BKA neun Telegram-Chatgruppen dichtmachen, leitete Ermittlungen gegen die Administratoren und Händler ein, durchsuchte Dutzende Wohnungen.

    Ermittlungen nach «Reichsbürger»-Razzia im Nordschwarzwald

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      Die Reichsbürger-Zelle: Legaler Waffenbesitz von Extremisten

      Der aktuelle Täter von München, der junge Emrah I., hat sich laut Ermittlern im Internet zwar jede Menge islamistische Propaganda angeschaut. Die Waffe, das hölzerne Repetiergewehr, besorgte er sich laut Medienberichten und Recherchen unserer Redaktion jedoch bei einem Händler – nur einen Tag vor der Tat am 5. September. In Österreich fällt das Gewehr aufgrund des Alters in „Kategorie C“, ist frei und ohne Waffenschein verfügbar, muss nur bei den Behörden angemeldet werden. Der Täter tat das nicht, sondern zog los.

      Als Hunderte Polizisten Ende 2022 bundesweit Räume und Wohnungen der mutmaßlichen rechtsterroristischen Gruppe um Prinz Reuß durchsuchten, entdeckten sie rund 140 scharfe Schusswaffen. Doch ein großer Teil davon, mindestens 60, waren ganz legal im Besitz der mutmaßlichen Mitglieder und Unterstützer. Der Neonazi, der 2019 CDU-Politiker Walter Lübcke erschoss, war Mitglied im Schützenverein, konnte legal schießen üben.

      Angeklagt: der adelige Prinz Reuß (M.). Er soll Mitglied einer mutmaßlichen rechtsextremen Gruppierung sein.
      Angeklagt: der adelige Prinz Reuß (M.). Er soll Mitglied einer mutmaßlichen rechtsextremen Gruppierung sein. © dpa Pool/dpa | Boris Roessler

      Auf Anfrage der Linksfraktion teilte die Bundesregierung im April 2024 mit, im Jahr 2022 seien 1051 mutmaßliche Rechtsextremisten Inhaber mindestens einer waffenrechtlichen Erlaubnis gewesen. Zwar können die Behörden Radikalen die Waffenerlaubnis entziehen, knapp 200 Extremisten gaben 2022 ihre Dokumente auf Druck der Behörden ab. Doch die Entwaffnung ist mühsam, viele Besitzer klagen dagegen.

      Lesen Sie auch: Was bringt schärferes Waffenrecht wirklich?

      Gerade die Szene der sogenannten „Reichsbürger“ macht Polizei und Nachrichtendiensten Sorge. Dort besteht eine hohe Dichte an legalen Waffen – auch acht Jahre, nachdem in Bayern ein „Reichsbürger“ einen Polizisten erschoss, als die Beamten dessen Waffen beschlagnahmen wollten. Seitdem steht die extrem rechte Bewegung im Visier der Sicherheitsbehörden.

      Legal sind auch Stoffe, aus denen Triacetontriperoxid, kurz TATP, besteht. Es sind Alltagschemikalien, erhältlich im Baumarkt, in der Drogerie nebenan oder bei Online-Händlern. Nagellackentferner etwa enthält wichtige Substanzen. TATP gilt als „Sprengstoff der Terroristen“, einfach herzustellen, mit legal bestellbaren Zutaten – und doch: Ohne spezielle Ausrüstung und chemisches Wissen ist es brandgefährlich. Die Attentäter von Paris und Brüssel sollen den explosiven Stoff dennoch bei ihren Anschlägen benutzt haben. Ermittler in Deutschland bekommen immer wieder Hinweise ausländischer Nachrichtendienste: Ihnen fallen Nutzer im Internet mit verdächtigen Bestelllisten auf. So waren deutsche Polizisten auch auf den jungen syrischen Geflüchteten Yamen A. in Schwerin gestoßen, der schon entsprechende Chemikalien im Netz geordert haben sollte.

      Umgebaute Deko-Waffen und Pistolen aus dem 3D-Drucker

      Im Sommer 2023 stellen Polizisten in Schleswig-Holstein mehrere Verdächtige beim Entladen eines Lastwagens aus der Türkei fest. Die Beamten entdecken einen verschweißten Stahlbehälter. Darin: 40 Pistolen, einzeln verpackt. Alle Waffen waren ursprünglich Schreckschusspistolen, die keine Projektile feuern, sondern wenig gefährliche Platzpatronen. Nur: Täter hatten die Waffen umgebaut, den Lauf ausgetauscht. Nun sollten sie als scharfe Waffen verkauft werden.

      Dieser Umbau von Schreckschusswaffen oder alten Deko-Waffen zu scharfen Pistolen oder Gewehren besorgt Kriminalbeamte – ein neues Reservoir für illegale Geschäfte, oft stammen sie aus osteuropäischen Ländern wie der Slowakei. Der Umbau ist günstig, die Schreckschusswaffen einfacher zu bekommen als etwa halbautomatische Maschinenpistolen.

      "Sicherheitspaket": Das hat die "Ampel" beschlossen

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        Beim Attentat eines Rechtsextremisten 2019 auf eine Synagoge in Halle fiel auf: Der junge Mann experimentierte mit selbstgebastelten Waffen – aus einem 3D-Drucker. Geräte mit denen eigentlich Prothesen oder Schuhe gedruckt werden, nutzen auch Extremisten in Einzelfällen. Anleitungen zum Waffenbau per Drucker finden sich im Internet. 2023 flog ein Rechtsextremist im Saarland auf, er hatte Schusswaffen des Typs „FGC-9 MK II“ illegal hergestellt. Bisher sind es wenige Fälle – und doch sind sich die Behörden bewusst: Die Drucktechnik wird besser, die Geräte günstiger, die Anleitungen ausgeklügelter.

        Die Waffen des Alltags: Messer, Autos, Äxte

        Der Attentäter von Solingen nahm ein Messer, der Dschihadist vom Berliner Breitscheidplatz 2016 kaperte einen Lastwagen, im selben Jahr schlug ein Täter im Regionalzug bei Würzburg mit einem Beil zu. Fachleute sprechen von „low involvement terrorism“ oder „low scale terrorism“, also einer Form terroristischer Gewalt, die wenig Planung, wenig, Geld und wenig technisches Wissen benötigt, sondern nur Gegenstände des Alltags, wie ein Küchenmesser. Die Gruppe „Islamischer Staat“ ruft ihre Anhänger in aller Welt in ihren Social-Media-Kanälen seit Längerem dazu auf, genau diese Waffen zu nutzen.

        Mit schärferen Waffengesetzen oder Verbotszonen sind diese Attentate kaum zu verhindern. Seit dem Anschlag von Solingen läuft in Deutschland die Diskussion über Messerverbote in der Öffentlichkeit. Der IS hat in seiner Propaganda längst darauf reagiert – und rät seinen Anhängern: Dann nehmt halt Äxte.