Berlin. Ungewöhnlich deutlich gerät Olaf Scholz am Wahlabend in die Kritik. In seiner Partei gibt es Gedankenspiele, wie es weitergehen könnte.
Und Olaf Scholz? Der Kanzler gehöre genauso dazu, stellt Kevin Kühnert klar, der am Wahlabend als erster prominenter Sozialdemokrat vor die Kameras tritt. „Darüber reden wir auch ganz offen in der SPD.“ Zuvor hatte der SPD-Generalsekretär darüber gesprochen, dass Politik besser erklärt werden müsse. „Es muss einiges geändert werden.“
Kühnert übt Selbstkritik, die aber den Kanzler ausdrücklich einschließt. Im Wahlkampf habe er gemerkt: „Es gibt ein riesiges Diskussionsbedürfnis.“ Das betreffe die Bundespolitik und die Weltpolitik, also den Zuständigkeitsbereich des Kanzlers. „Ganz vieles kann nicht nachvollzogen werden, weil zu wenig oder nicht verständlich genug darüber diskutiert wird.“
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Scholz und sein Kommunikationsstil gelten schon lange als wunder Punkt der SPD und der Koalition. So offene Worte wie die von Kühnert um kurz nach 18 Uhr sind bemerkenswert. Kühnert stand zu dem Zeitpunkt noch vor der kuriosen Situation, dass seine Partei in Sachsen möglicherweise minimal hinzugewonnen hat. Im Verlauf des Abends schmolz das kleine Plus immer weiter. In Thüringen gab es erwartungsgemäß Verluste. Aber: In beiden Ländern erreichen die Sozialdemokraten nur noch einstellige Ergebnisse.
Brandenburg: Dietmar Woidke meidet Scholz im Wahlkampf
Die SPD ist Kanzlerpartei. Lange galt sowas als Bonus – auch bei Landtagswahlen. Kanzlerauftritte waren Highlights im Wahlkampf, damit füllte man Marktplätze. Nicht mehr. Nicht mit diesem Bundeskanzler. Dietmar Woidke, der in drei Wochen in Brandenburg wieder zum Ministerpräsidenten gewählt werden will, meidet den in Potsdam lebenden Kanzler im Wahlkampf so gut es geht. Nach dem Motto: Bloß nicht mit Scholz, der Ampel und denen da in Berlin in einen Topf geworfen werden.
Wie ein Mühlstein hängt das Auftreten des Kanzlers und seiner Koalition den Wahlkämpfern um den Hals. Gut ein Jahr vor dem regulären Termin der nächsten Bundestagswahl ist die Ampel als Marke verbrannt – und damit nicht nur das Image der SPD, sondern aller drei Ampelparteien.
Das haben an diesem Wahlabend auch die Koalitionspartner FDP und Grüne in Sachsen und Thüringen erfahren: Die Grünen büßen von ihren wenigen Stimmen im Osten weitere ein und schaffen es in Thüringen nicht in den Landtag, in Sachsen müssen sie am Wahlabend zittern. Bei der FDP heißt es in Wahlanalysen am Sonntag sogar „kaum noch messbar“: In beiden Ländern verlieren die freien Demokraten und landen bei einem Wert zwischen ein und zwei Prozent.
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SPD merkt: Der Kanzler zieht nicht, der Kanzler schreckt ab
Bei der Europawahl im Juni hatte die SPD noch auf den Kanzler als Zugpferd gesetzt. Neben der Spitzenkandidatin Katarina Barley blickte Scholz von den Plakaten. Mit 13,9 Prozent erreicht die SPD ihr historisch schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl. Bei manchen in der SPD war da bereits die Erschütterung darüber groß, wie sehr die Ampel-Koalition und auch Scholz den Wahlchancen der Partei schaden.
Die Bilanz der Kampagne konnte nur lauten: Der Kanzler zieht nicht, der Kanzler schreckt ab. Was heißt das für die nächste Bundestagswahl und die Kanzlerkandidatur? Müsste die SPD nicht auf jemand anderen setzen als auf Scholz, wenn sie eine erneute Chance auf das Kanzleramt haben will? Parteichef Lars Klingbeil will am Wahlabend nicht davon wissen: „Wir brauchen einen geschlossenen Kampf“, sagt er. „Mit dem Bundeskanzler“
Verteidigungsminister Boris Pistorius ist laut Umfragen mit großem Abstand der beliebteste Politiker in Deutschland. Er kommt nicht nur um Längen besser an als Scholz, sondern auch als andere mögliche Spitzenkandidaten der Konkurrenz – von Friedrich Merz (CDU) über Robert Habeck (Grüne), Sahra Wagenknecht (BSW) bis zu Alice Weidel (AfD). Die Diskussion darüber, ob die SPD mit Pistorius bessere Chancen hat, dürfte nach diesem Wahlsonntag noch einmal an Fahrt aufnehmen.
Scholz ist unbeirrt, doch viele haben den Glauben an ihn verloren
Scholz zeigt sich bislang jedoch unbeirrt, redet in Interviews davon, wie er die SPD wieder zum Wahlsieg führen will. Der Kanzler geht fest davon aus, dass er den überraschenden Wahlsieg von 2021 im kommenden Jahr wiederholen kann. Von diesem Coup hat die Partei lange gezehrt, doch vielen Sozialdemokraten geht inzwischen der Glaube an Scholz verloren.
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Noch hat kein Parteiprominenter öffentlich gefordert, Scholz die Kanzlerkandidatur zu entreißen. Dafür wäre es vermutlich auch noch zu früh. Mit Interesse beobachtet mancher in der SPD, wie es den US-Demokraten mit der Nominierung von Kamala Harris nur wenige Wochen vor der Wahl gelang, neue Zuversicht zu verbreiten. Wer bereits jetzt auf einen anderen Kandidaten setzt, läuft nach diesen Gedankenspielen Gefahr, ihn bis zur Wahl ebenfalls zu verbrennen.
Erinnert wird in der SPD an Martin Schulz, der 2017 anstatt Parteichef Sigmar Gabriel als Kanzlerkandidat ins Rennen ging. Erst löste der Europapolitiker große Euphorie aus, doch im Verlauf des Wahlkampfes verglühte Schulz völlig und holte für die SPD das bis dahin schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl. Heute glauben manche in der Partei, dass man Schulz damals einfach zu früh präsentiert habe. Andere in SPD verweisen, angesprochen auf Pistorius, warnend auf das Beispiel Schulz: Ein beliebter Politiker mache noch längst keinen guten Kanzlerkandidaten.
Bis zur Landtagswahl in Brandenburg am 21. September werden die Genossen versuchen, sich am Riemen zu reißen. Schließlich soll SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke unbedingt die Wahl gewinnen. Noch nie hat dort seit der Wiedervereinigung eine andere Partei den Regierungschef gestellt als die SPD. Es wäre ein tiefer Einschnitt für die SPD, sollte sie Brandenburg verlieren. Doch spätestens nach der Wahl steht Scholz und seiner Partei ein heißer Herbst bevor.
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