Berlin. Künftig soll es Abschiebungen nach Afghanistan geben. Wie viele Afghanen in Deutschland leben und wie viele ausreisepflichtig sind.

Die brutale Tat wurde in Echtzeit dokumentiert, im Livestream auf YouTube ließ sich der Angriff verfolgen: Ende Mai, ein Marktplatz in Mannheim, die islamkritische Organisation „Pax Europa“ filmt, wie sie eine kleine Kundgebung abhält. Menschen sammeln sich um den Stand, im Hintergrund spricht der Islamkritiker Michael Stürzenberger. Dann, nach etwa zwölf Minuten, gerät plötzlich ein Mann in den Fokus. Er geht auf Stürzenberger zu und sticht mit einem Messer auf ihn ein. Es sind hektische Rufe zu hören: „Messer weg! Messer weg!“ Dann kommt die Polizei hinzu, der Mann sticht auf einen Polizisten ein – und wird dann von einem Beamten niedergeschossen. Der Polizist, den er angegriffen hat, verstirbt kurz darauf. 

Der mutmaßliche Täter stammt aus Afghanistan. Und er könnte ein islamistisches Motiv haben. Bereits Wochen zuvor hatten Hunderte Menschen bei einer Demonstration in Hamburg für die Ausrufung eines islamistischen Gottesstaates in Hamburg demonstriert. Auf den Plakaten standen Parolen wie „Deutschland = Wertediktatur“ und „Kalifat ist die Lösung“. 

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Die Messerattacke in Mannheim und die Kalifats-Demonstration in Hamburg sorgten dafür, dass Bewegung in die Debatte über Abschiebungen nach Afghanistan geraten ist. Was vorher als ausgeschlossen galt, soll künftig möglich sein, so hat es Kanzler Scholz angekündigt. Doch um wie viel Personen geht es? Lässt sich dieser Plan umsetzen? Und wie ist der Stand in den Bundesländern? Ein Überblick. 

Wer soll laut Scholz abgeschoben werden?

In einer Regierungserklärung Anfang Juni wurde Olaf Scholz deutlich: „Schwerstkriminelle und terroristische Gefährder haben hier nichts verloren“, sagte der Bundeskanzler kurz nach dem Messerangriff in Mannheim. Solche Straftäter „gehören abgeschoben, auch wenn sie aus Syrien und Afghanistan stammen“. Das Bundesinnenministerium arbeite deshalb daran, Abschiebungen von Straftätern und Gefährdern nach Afghanistan zu ermöglichen. Aber: Was genau unter „schwerste Straftaten“ fällt, ist bislang nicht definiert.

Wie viele Menschen aus Afghanistan haben keine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland?

Das Bundesamt für Migration (BAMF) teilt unserer Redaktion auf Anfrage mit: „Ausweislich des Ausländerzentralregisters (AZR) waren zum Stichtag 31.05.2024 insgesamt 430.056 Personen mit afghanischer Staatsangehörigkeit in Deutschland aufhältig, davon 12.824 ausreisepflichtig.“

Diese Redaktion hat alle 16 Bundesländer angefragt, nicht alle wollten die Zahlen offenlegen. Die meisten Länder erheben die Anzahl der ausreisepflichtigen Afghanen für den Stichtag 31. Mai 2024. Je nach Einzelfall könnte eine Abschiebung bald bevorstehen, sofern die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen sind. Teilweise sind die betroffenen Personen zwar grundsätzlich ausreisepflichtig, aber aktuell geduldet.

Wie viele davon sind Straftäter?

Das lässt sich nicht eindeutig sagen. So heißt es aus Sachsen auf Anfrage unserer Redaktion: „Bei der Meldung findet eine Priorisierung für Personen, die schwerste Straftaten begangen haben, oder/und Mehrfachstraftäter sind, statt.“ Auch andere Bundesländer teilen unserer Redaktion mit: Die Prüfung bedürfe mit Blick auf das Vorliegen eventueller Abschiebungshindernisse einer Prüfung in jedem Einzelfall. In Bremen sei nur „ein kleiner Teil“ der ausreisepflichtigen Personen Straftäter.

In Berlin ist die konkrete Zahl der Personen „variabel“ und könne „aus Gründen der Geheimhaltung“ nicht veröffentlicht werden. In Bayern gibt es eine „Taskforce Straftäter“, die von 176 Personen in Bayern ausgeht, bei denen eine „priorisierte Abschiebung“ geboten sei. Aus etlichen Bundesländern heißt es, die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern sei prioritär und werde zügig in enger Zusammenarbeit von Ausländer- und Sicherheitsbehörden vorangetrieben.

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Warum ist das jetzt (noch) nicht möglich?

Vier Wochen ist die Ankündigung des Bundeskanzlers jetzt her, abgeschoben wurde nach Afghanistan seitdem niemand. Das liegt daran, dass es mehrere hohe praktische Hürden gibt. Da ist zum einen die Lage im Land, die das Auswärtige Amt nüchtern als „schlecht“ beschreibt: Anschläge, Entführungen, willkürliche Inhaftierungen sind keine Seltenheit. Auch die humanitäre Situation ist kritisch, Hunger ist weit verbreitet. Das wirkt sich auf die Asylverfahren aus: Droht Abgeschobenen in Afghanistan eine so schlechte Lebenssituation, dass sie nach der Europäischen Menschenrechtskonvention als Folter ausgelegt werden kann, kann das einer Abschiebung entgegenstehen.

Nach einer Recherche des juristischen Fachportals „Legal Tribune Online“ urteilten Obergerichte zuletzt in dieser Frage unterschiedlich. Auch wenn den betreffenden Personen Folter durch die Taliban droht, steht das einer Abschiebung entgegen. Entscheidend sind die Umstände des Einzelnen.

Hat Schweden ein Modell, an dem sich Deutschland orientieren kann?

Das skandinavische Land wurde in der deutschen Debatte als Vorbild angeführt dafür, dass es möglich sei, Menschen auch nach Afghanistan abzuschieben. Tatsächlich hat das Königreich dies im vergangenen Jahr getan, allerdings sehr vereinzelt: 2023 ging es um insgesamt fünf Personen, zwei davon wurden wegen Straftaten abgeschoben. Ihr Weg ging über Usbekistan und die Fluglinie Kam Air. Die Airline steht wegen Sicherheitsmängeln auf der schwarzen Liste der EU.

Aber auch Schweden sieht sich großen Hürden gegenüber. Die Chefin der Grenzpolizei, Cajsa Velden, verwies kürzlich darauf, dass es keine Beziehungen zu den Taliban gebe. Deswegen sei es sehr schwer, vor Ort Kontakt aufzubauen und Abschiebungen umzusetzen. Für Frauen und Mädchen gilt seit der Machtübernahme der Taliban ein Abschiebestopp von Schweden nach Afghanistan.

Welche Reaktionen gibt es aus der Politik zu den aktuellen Plänen?  

Der hessische Innenminister Roman Poseck (CDU) erhöht den Druck auf den Bund. Er sagt unserer Redaktion: „In erster Linie ist der Bund am Zug, die irreguläre Migration zu reduzieren.“ Poseck setzt hinzu: „Hessen wird sich an den Abschiebungen dieser Personengruppe beteiligen. Die Bundesregierung muss nun handeln und ihrem Sicherheitsversprechen gerecht werden.“ Das Innenministerium von Nancy Faeser (SPD) verhandelt bereits mit Usbekistan. Der Plan: Afghanen, die abgeschoben werden sollen, könnten zunächst nach Usbekistan ausgeflogen werden und von dort dann nach Kabul in Afghanistan gebracht werden. So würde die Bundesregierung die Verhandlungen mit den Taliban in Afghanistan vermeiden.

Diskutiert wird auch, ob kriminelle Afghanen nicht zunächst ihre Haftstrafe in Deutschland absitzen müssten. Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Stephan Thomae, sagt dazu unserer Redaktion: „Eine Abschiebung darf nicht dazu führen, dass Taten und ihre Hintergründe nicht aufgeklärt werden und ausländische Täter am Ende ungeschoren davonkommen.“ Daher müsse vor einer Abschiebung die Strafe mindestens teilweise verbüßt werden. Der Plan wäre dann: erst Haft, dann Abschiebung. Ob und wie er in einer konkreten, neuen Gesetzgebung umgesetzt wird, ist noch offen.