Berlin. Unter großer Aufmerksamkeit verlässt die Bundestagsabgeordnete Sekmen die Grünen. Ihre neue politische Heimat soll anderswo liegen.
Der Bundestag, mit inzwischen ganzen 733 Mitgliedern, hat viele Bänke. Und nicht alle davon können in der ersten Reihe stehen. Während die Fraktionsvorsitzenden und ihre Stellvertreter vorn und im Blick der Kameras sitzen, gibt es im Hintergrund zahlreiche Abgeordnete, die ohne viel Scheinwerferlicht ihre Themen vorantreiben.
Man tritt Melis Sekmen nicht zu nahe, wenn man sie einordnet als eine jener Abgeordneten, die bisher eher auf den hinteren Bänken zu finden waren.
Jetzt allerdings steht die 30-Jährige jäh im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Denn sie hat entschieden, Partei und Bundestagsfraktion der Grünen zu verlassen und stattdessen Mitglied in der Fraktion von CDU und CSU zu werden.
Sekmen: Politik muss „unbequeme Realitäten“ benennen
Sekmen, die seit 2021 für die Grünen im Bundestag sitzt, erklärte ihren Austritt am Montag. In einem Brief an ihre bisherigen Parteifreunde schrieb sie, sie gehe „im Guten“. Politik müsse den Mut haben, „unbequeme Realitäten“ zu benennen, auch wenn es nicht in die eigene politische Erzählung passe, so Sekmen weiter. „Diese Stimmen müssen stärker aus der Mitte und nicht aus den extremen Rändern der Politik kommen.“ Dafür brauche es eine Debattenkultur, die Menschen und ihre Meinungen oder ihre Sorgen nicht in Schubladen stecke.
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Fündig wird sie da offenbar nicht mehr bei den Grünen, sondern stattdessen bei den Christdemokraten – und insbesondere in deren Grundsatzprogramm. Auch damit begründete Sekmen ihre Entscheidung, künftig als Teil der Unionsfraktion arbeiten zu wollen.
Zustande gekommen sein soll die für Beobachter und Beobachterinnen überraschende Entscheidung in den vergangenen Wochen. Nach ersten Kontakten mit Unionsvertretern traf Sekmen in der letzten Woche auch CDU-Chef Friedrich Merz, was den Wechsel offenbar besiegelte. Merz beschrieb das Gespräch als sehr angenehm und sprach von einer „wirklich beeindruckenden Geschichte einer eingewanderten Familie aus der Türkei“, die Sekmen mitbringe.
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Im Hintergrund ist die Rede von Problemen in „Verhaltensfragen“
Sekmen, die Volkswirtschaftslehre studiert, wurde in Mannheim geboren und wuchs dort auch auf. Ihre Familie stammt ursprünglich aus der Türkei. Der Bezug zur Stadt ist ihr wichtig, in die Politik kam sie über die kommunale Ebene. Sie sei „ein Kind Mannheims“, betont sie.
Auf Jahre im Mannheimer Gemeinderat, wo sie die Fraktion der Grünen anführte, folgte 2021 der Wechsel in die Bundespolitik, als Teil der größten Grünen-Fraktion, die es je gab.
Mit dem Austritt ist diese jetzt nur noch 117 Mitglieder stark. Sie bedaure den Austritt sehr, „aber das ist jetzt die Situation“, sagte Fraktionschefin Britta Haßelmann. „Reisende kann man nicht aufhalten.“ Die Fraktion will nun beraten, wie es organisatorisch weitergeht. Sekmen war bisher Obfrau der Fraktion im Wirtschaftsausschuss, als stellvertretendes Mitglied saß sie auch im Finanzausschuss. Ihr inhaltlicher Schwerpunkt bisher lag auf der Start-up-Szene in Deutschland.
Hinter vorgehaltener Hand ist zu hören, allzu groß sei der Verlust für die Fraktion nicht – mit Sekmen habe es in der Vergangenheit Probleme in „Verhaltensfragen“ gegeben. Für die nächste Bundestagswahl, heißt es aus Fraktionskreisen, wäre sie nicht mehr aufgestellt worden.
Sekmen war 2021 über Platz 16 auf der Liste der baden-württembergischen Grünen eingezogen. Ihr ehemaliger Kreisverband forderte sie auf, deshalb jetzt ihr Mandat zurückzugeben und zu ermöglichen, dass eine andere Person von der grünen Liste nachrücken kann.
Melis Sekmen: Für die Grünen kommt der öffentlichkeitswirksame Wechsel ungelegen
Sekmen selbst reagierte am Dienstag auf Anfrage nicht auf Kritik an ihrer Arbeit von Ex-Kolleginnen und Kollegen. Ob wahltaktisches Kalkül eine Rolle gespielt hat beim Wechsel, ist unklar. Fest steht aber, dass derzeit kein CDU-Abgeordneter aus Mannheim im Bundestag sitzt. Zu versprechen gebe es da aber nichts, sagte Unions-Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei.
Ungelegen kommt der öffentlichkeitswirksame Sinneswandel für die grüne Partei in jedem Fall. In Sekmens Heimat Baden-Württemberg sind Grüne und CDU gleichzeitig Koalitionspartner in der Regierung von Winfried Kretschmann und Rivalen, die schon jetzt die Landtagswahl 2026 im Hinterkopf haben. Derzeit liegen die Christdemokraten in Umfragen rund 10 Prozentpunkte vor den Grünen des Ministerpräsidenten.
Trotzdem war man bei der Union am Dienstag bemüht, Triumphgeheul angesichts des Seitenwechsels möglichst gering zu halten. Unionsfraktionschef Merz sprach von einer „erfreulichen“ Entscheidung, sparte sich aber Spitzen gegen Sekmens ehemalige Partei.
Nach dem Austritt bei den Grünen muss Sekmen zunächst darauf warten, dass der zuständige Kreisverband der CDU ihren Mitgliedsantrag prüft, bevor sie offiziell Teil der Unionsfraktion werden kann. In der Fraktionssitzung ihrer neuen Banknachbarn konnte sie sich am Dienstag allerdings schon einmal als Gast vorstellen. Nach Angaben von Teilnehmern der Sitzung gab es für ihre Entscheidung langen Applaus.
Wechsel wie der von Sekmen sind selten, aber kommen vor. Im vergangenen Jahr war der Bundestagsabgeordnete Thomas Lutze von der Linken, damals noch als Fraktion im Bundestag, zur SPD gewechselt. Sekmen hat zudem auch eine Vorgängerin auf dem Weg von den Grünen zur CDU: Ex-DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, die 1996 ebenfalls von der einen Fraktion zur anderen ging. Inzwischen ist Lengsfeld auch nicht mehr Mitglied der CDU.