Brüssel. Sechs Monate hat Ungarn den Vorsitz in der EU. Was dahinter steckt, wie viel Macht Premier Viktor Orban hat und was Kritiker fürchten.
Ungarn hat die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Ministerpräsident Viktor Orban schlägt mit seinem Rats-Slogan „Make Europe great again“ kräftig auf die Pauke – doch in Brüssel wird die neue Verantwortung Ungarns auch mit Sorge gesehen. Welche Macht hat Orban jetzt, was heißt das für Europa?
Was ist die Ratspräsidentschaft?
Die Ratspräsidentschaft führt jeweils für ein halbes Jahr die Regie bei den Treffen der EU-Mitgliedstaaten auf Ministerebene. Sie setzt die Tagesordnung für jede Sitzung auf, moderiert die Treffen, macht Kompromissvorschläge, zieht Schlussfolgerungen. Fortschritte bei Verhandlungen über wichtige Themen sind unwahrscheinlich, wenn die Ratspräsidentschaft es nicht will. Sie bestimmt zum Teil auch über die Termine von Sitzungen. Organisationsfragen sind Machtfragen, deshalb hat die Ratspräsidentschaft erheblichen Einfluss.
Viktor Orban im exklusiven Interview: „Die Risiken der illegalen Migration sind enorm“
Aber nicht unbegrenzt, wie Orbans Amtsvorgänger erläutert: „Die Präsidentschaft bedeutet nicht, dass man der Chef von Europa ist. Die Präsidentschaft bedeutet, dass Sie derjenige sind, der den Kompromiss machen muss“, erklärte der belgische Ministerpräsident Alexander De Croo seinem Budapester Kollegen in Brüssel. Für die besonders wichtigen Treffen der Staats- und Regierungschefs, also die EU-Gipfel, gibt es seit 2009 ohnehin einen hauptamtlichen Ratspräsidenten (aktuell Charles Michel, ab Herbst Antonio Costa), dafür wird also auch Orban nicht zuständig sein.
Ratspräsidentschaft: Was will Orban erreichen?
Die wichtigsten Punkte hat Orban im Interview mit unserer Redaktion so skizziert: „Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft steigern. Wir sind für die Beendigung des Krieges. Und das Migrationsproblem sollte gelöst werden. Wir wollen uns zudem darum kümmern, dass es bei der EU-Erweiterung Richtung Westbalkan vorangeht.“ Das Motto für die Ratspräsidentschaft lautet: „Make Europe great again“ – ein abgewandelter Wahlkampf-Slogan des früheren US-Präsidenten Donald Trump. Nach eigenen Angaben erwartet die ungarische Ratspräsidentschaft 37 offizielle Ratssitzungen und rund 1500 Sitzungen der Arbeitsgruppen.
Warum ist Ungarns Vorsitz umstritten?
Weil nun eine Regierung Regie führt, deren Chef offen EU-Skepsis zur Schau trägt. Ungarn steht seit Jahren in der Kritik wegen Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien im Innern. Und in Brüssel hat Orban immer wieder die Rolle des Blockierers gewählt, der Entscheidungen der Mitgliedstaaten verhindert, zuletzt vor allem zur Ukraine. Nur mit einem juristischen Trick konnten die EU-Staaten vor kurzem eine Waffenhilfe für die Ukraine in Höhe von 1,4 Milliarden Euro an Orban vorbei freigeben. Auch eine Verständigung auf den Asyl- und Migrationspakt hat Ungarn lange zu verhindern versucht, am Ende vergeblich. „Zum ersten Mal steht ein Land an der Spitze der EU, das keine funktionierende Demokratie mehr hat. Das hat es noch nie in der Geschichte der EU gegeben“, sagt der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund. „Wenn Ungarn heute der EU beitreten wollte, würde es abgelehnt, weil es die Aufnahmekriterien nicht erfüllt.“ Für Irritationen in Brüssel sorgt, dass Orban pünktlich zum Start der Ratspräsidentschaft die Gründung einer neuen Rechtsaußen-Fraktion im EU-Parlament bekannt gegeben hat.
Wie viel Schaden kann Orban in der EU anrichten?
Wohl nicht sehr viel, sind sich Diplomaten in Brüssel inzwischen sicher. Erstens werden die Möglichkeiten der Ratspräsidentschaft generell gern überschätzt, die anderen 26 Mitgliedstaaten wissen ihre Interessen durchzusetzen. Und Gesetzesvorschläge kann sowieso immer nur die EU-Kommission vorlegen. Zweitens ist in der EU in den nächsten sechs Monaten wegen der Neuaufstellung von Parlament und Kommission relativ wenig zu entscheiden: Die Besetzung der EU-Spitzenämter ist geklärt, in den nächsten Monaten wird die neue EU-Kommission gebildet, das neugewählte Parlament muss sich erst sortieren. Drittens ist die große Sorge entfallen, dass sich Ungarn mit Polen abstimmen könnte, das im ersten Halbjahr 2025 als Nächstes die Ratspräsidentschaft übernimmt. Lange sah es so aus, als wenn zwei rechtsnationale Regierungen zusammen ein Jahr lang der EU ihren Stempel aufdrücken könnten. Doch die rechte PiS-Regierung in Polen ist abgewählt. Im Brüsseler EU-Rat heißt es deshalb: Was Orban womöglich an Schaden verursache, könne Polens Premier Donald Tusk umgehend reparieren.