Brüssel. Der scheidende niederländische Premier wird Nato-Chef: ein ungewöhnlicher Politiker, als „Trump-Flüsterer“ ist er die Idealbesetzung.
Das Pokern um die künftige Führung der Nato ist beendet: Der scheidende niederländische Regierungschef Mark Rutte wird im Herbst Generalsekretär der westlichen Allianz, als Nachfolger von Jens Stoltenberg. Der 57-Jährige hat am Donnerstag die letzte Hürde genommen: Als letztes Nato-Mitglied stimmte auch Rumänien der Berufung zu und zog die Kandidatur von Präsident Klaus Johannis zurück. Anfang der Woche hatte schon Ungarns Premier Viktor Orban eingelenkt und sein Einverständnis erklärt.
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Rutte wird im Nato-Hauptquartier wahrscheinlich bereits in der kommenden Woche offiziell als Nachfolger Stoltenbergs präsentiert, eine feierliche Ernennung durch die Staats- und Regierungschefs der 32 Mitgliedstaaten dürfte es dann beim Nato-Gipfeltreffen am 10. und 11. Juli in Washington folgen. Die Zeit drängt, es steht viel auf dem Spiel: Der nächste Nato-Chef muss dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Stirn bieten – und er muss zugleich einen möglichen US-Präsidenten Donald Trump im Zaum halten können, damit das Bündnis nicht auseinanderbricht.
Möglicher neuer Nato-Chef fährt mit dem Rad ins Büro
Rutte gilt dafür als Idealbesetzung. Er hat den Ruf eines „Trump-Flüsterers“. Doch setzt auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj große Erwartungen in ihn: „Ich hoffe, er wird es, wir werden eine starke Beziehung haben“, sagte Selenskyj kürzlich an der Seite Ruttes. Als Nato-Chef werde der Niederländer nicht nur das Bündnis zusammenhalten, sondern auch der Ukraine den Weg in die Allianz ebnen. Rutte hatte die Ukraine im Krieg gegen die russischen Invasoren früh mit Waffenlieferungen unterstützt und voriges Jahr eine F-16-Kampfjet-Koalition ins Leben gerufen.
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Der Rechtsliberale hat in den Niederlanden in 14 Jahren vier verschiedene Koalitionsregierungen geführt und sich in dieser Zeit den Ruf des „Teflon-Rutte“ erarbeitet: Alle Attacken lässt er geschickt abperlen. Rutte gilt als geschmeidig, pragmatisch, charmant. Dazu führt er ein für einen Spitzenpolitiker ungewöhnliches Leben: Der studierte Historiker und Ex-Manager wohnt als Junggeselle in einer gewöhnlichen Etagenwohnung in Den Haag, fährt oft mit dem Fahrrad ins Büro.
Einmal in der Woche unterrichtet er ehrenamtlich Gesellschaftskunde in einer Hauptschule in Den Haag. Rutte spielt seit seiner Kindheit leidenschaftlich gern Klavier, teure Hobbys sind nicht bekannt. Affären auch nicht: „Ich bin einfach noch nicht der Richtigen begegnet“, sagte er einmal im niederländischen Fernsehen.
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Die US-Regierung hatte ihn schon mehrmals intern gedrängt, den Spitzenjob in der Nato zu übernehmen, auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat ihn frühzeitig favorisiert. Rutte winkte wegen seines Regierungsamtes wiederholt ab. Doch jetzt ist der Weg frei: Er hatte nach einem Koalitionsbruch im Juli 2023 seinen Rückzug aus der niederländischen Politik angekündigt, zur Parlamentswahl im November trat er nicht mehr an. Nun führt er die Geschäfte nur noch für den Übergang, bis Anfang Juli eine neue Koalitionsregierung unter Beteiligung des Rechtspopulisten Geert Wilders antritt.
Nächster Nato-Generalsekretär Rutte: Er gilt als „Trump-Flüsterer“
Was den scheidenden Premier jetzt praktisch alternativlos machte, ist sein ungewöhnlich gutes Verhältnis zu Donald Trump, dessen mögliche Präsidentschaft das große Angst-Thema auch im Nato-Hauptquartier ist: Trump spielt mit der Drohung, die USA könnten die Nato verlassen – was das Ende der Allianz bedeuten würde. Und er hat vor kurzem die amerikanischen Schutzzusagen für die Verbündeten im Fall eines Angriffs infrage gestellt, was die Abschreckungsstrategie der Nato beschädigt.
Rutte hat den damaligen US-Präsidenten gleich zweimal im Weißen Haus besucht – ungewöhnlich für einen Premier aus einem kleineren EU-Land. 2019 meinte Trump über seinen Gast: „Wir sind Freunde geworden in den vergangenen Jahren.“ Die Beziehungen zwischen Washington und Den Haag seien so gut wie noch nie. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz rief Rutte im Februar dazu auf, das Jammern über Trump einzustellen: „Wir müssen mit jedem können.“ Rutte hat aber auch einen exzellenten Draht zu Präsident Joe Biden, der ihm als freundschaftliche Geste schon mal erlaubte, sich für ein Foto auf den Präsidentenstuhl am Schreibtisch im Oval Office zu setzen.
Das Vertrauen der Amerikaner ist der Schlüssel für den Top-Posten, ohne Zustimmung aus Washington geht nichts. „Der Nato-Chef muss im Krisenfall aber auch noch mit jedem anderen Regierungschef selbst nach Mitternacht vertraulich telefonieren und Kompromisse schmieden können, selbst mit Erdogan oder Orban“, beschreibt ein Nato-Diplomat die Aufgabe. Denn die Hauptaufgabe des Generalsekretärs ist es, die 32 Mitgliedsländer mit ihren sehr unterschiedlichen Interessen auf Konsens-Kurs zu halten. Dieser politische Job geht in der Nato traditionell an einen Europäer, die militärische Führung hat stets ein US-General.
Rutte hatte sich schon im vorigen Oktober selbst für den Chefposten ins Gespräch gebracht: Der biete die Möglichkeit, „in einer Zeit dramatischer globaler Veränderungen einige Jahre lang auf der internationalen Bühne mitzuwirken“, sagte er im niederländischen Radio. Dieser ungewöhnliche Vorstoß in eigener Sache stieß nicht bei allen Regierungen auf Wohlwollen. Das Manöver sei ein Fehler gewesen, räumte Rutte ein, als er später Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin besuchte. Aber auch von Scholz hatte er frührzeitig vertraulich das Signal der Unterstützung erhalten, wie es in Regierungskreisen heißt.
Rutte droht: Wir werden Russland zur Verantwortung ziehen
Ein Manko allerdings gibt es: Die Niederlande haben unter Ruttes Verantwortung noch nicht das Zwei-Prozent-Ziel der Allianz für die Verteidigungsausgaben erreicht. Außerdem hat das Land bereits dreimal den Generalsekretär gestellt – Deutschland zum Beispiel nur einmal. Aber schwerer hatten Bedenken gegen seine Konkurrenten gewogen: Im Gespräch waren vor allem die estnische Premierministerin Kaja Kallas und der lettische Außenminister Krisjanis Karins.
Doch bei westeuropäischen Regierungen gab es die Befürchtung, dass eine Chefin oder ein Chef aus dem Baltikum die Spannungen zwischen Nato und Russland noch zusätzlich verschärfen könnte. Dennoch zog sich die Personalie über Monate hin: Erst warf Rumäniens Präsident Klaus Johannis, dessen Amtszeit in Bukarest zum Jahresende ausläuft, seinen Hut in den Ring - von vornherein aussichtslos, aber offenbar vom Willen getragen, sich für einen Anschlussjob ins Gespräch zu bringen.
Johannis zog am Donnerstag seine eigene Kandidatur zurück. Zugleich unterstütze Rumänien nunmehr die Kandidatur Ruttes, hieß vom rumänischen Präsidialamt nach einer Entscheidung des obersten Verteidigungsrates des Landes (CSAT), in dem Iohannis den Vorsitz führt. Zuvor hatten bereits Ungarn, die Slowakei und die Türkei frühere Bedenken zurückgezogen; die vier waren die einzigen Nato-Staaten gewesen, die Ruttes Ernennung blockierten.
So räumte Rutte Orbans Widerstand ab
Entscheidend für den künftigen Nato-Chef war, dass er den ungarischen Widerstand souverän bei einem Vier-Augen-Gespräch mit Orban am Rande des jüngsten EU-Gipfels ín Brüssel abräumte. Es ging unter anderem darum, dass Ungarn sich sicher sein will, nicht zu einer Beteiligung an einem geplanten Nato-Einsatz zur Koordinierung von Waffenlieferungen für die Ukraine gedrängt zu werden. Die Regierung von Orban befürchtet, dass das Bündnis durch das Projekt in eine direkte Konfrontation mit Russland getrieben werden könnte. Das bekam Orban von Rutte sogar schriftlich. Das diplomatische Geschick, dass Rutte in diesen Debatten bewies, wird von ihm nun auch an vielen anderen Stellen erwartet.
Nur gegenüber Russland wohl nicht. An Ruttes klaren Haltung gegenüber Moskau besteht kein Zweifel. Der Abschuss des in Amsterdam gestarteten Passagierfluges MH17 über der Ostukraine 2014, bei dem 298 Passagiere ums Leben kamen, darunter 153 Niederländer, hat die niederländische Politik tief geprägt, auch Rutte persönlich. Seine Regierung macht Russland für den Abschuss verantwortlich, Rutte droht: „Wir werden die Russische Föderation für ihre Rolle in dieser Tragödie zur Rechenschaft ziehen.“