Berlin.. In Estland ist die Digitalisierung weit fortgeschritten. Das wird sich auch auf künftige Wahlen auswirken. Doch was ist mit uns?

Einfach das Smartphone rausholen, eine App öffnen und die Stimmabgabe bei der nächsten Wahl ist so gut wie erledigt. In Estland soll das bald Realität werden. Bereits seit 2005 ist es in dem baltischen Staat möglich, bei Wahlen online abzustimmen. Mehr als die Hälfte aller Stimmen wurde bei der Parlamentswahl im März online abgegeben. Jetzt hat die estnische Regierung eine App entwickeln lassen, die die Stimmabgabe vom Smartphone ermöglicht.

Lesen Sie hier: Europa-Agenda 2030 – die fünf großen Baustellen der EU

Eine Bundestagswahl per App scheint in Deutschland noch weit entfernt. Dass die Esten dies umgesetzt haben, war nach Meinung von Christoph Bieber ein naheliegender Schritt. Bieber ist Forschungsprofessor im Bereich „Digitale Demokratische Innovationen“ am Center of Advanced Internet Studies in Bochum, einem Institut für Forschungen zur Digitalisierung. „Es ist ein konsequenter Ansatz der Modernisierung in Estland“, sagt er. Dadurch dass Wahlen in Estland bereits seit 2005 online stattfinden, hätten sich über die Jahre genug Erfahrungen angesammelt, um weitere Innovationen in solchen Umgebungen in Erwägung zu ziehen. „Das ist der große Unterschied zu Deutschland“, erklärt er. Und weiter: „Wir haben keine Institution, die diese Aufgabe in die Hand nimmt und Wahlen moderner und effizienter gestaltet.“

Christoph Bieber ist Forschungsprofessor im Bereich „Digitale Demokratische Innovationen“ am Center of Advanced Internet Studies in Bochum.
Christoph Bieber ist Forschungsprofessor im Bereich „Digitale Demokratische Innovationen“ am Center of Advanced Internet Studies in Bochum. © CAIS | Michael Schwettmann

Das könnte Sie auch interessieren: Studie: Warum Frauen bei der Digitalisierung Nachteile haben

Ein weiterer Knackpunkt in Deutschland ist die rechtliche Grundlage. 2009 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass der Einsatz von Wahlcomputern bei der Bundestagswahl 2005 verfassungswidrig war. Wesentlicher Bestandteil des Urteils war das Argument, dass die Abgabe und Auszählung der Stimmen bei einer Wahl von den Bürgerinnen und Bürgern einfach nachzuvollziehen und im Zweifel überprüfbar sein müssen. „Bei einer digitalen Abgabe, Zusammenführung und Auszählung von Stimmen ist das nach jetzigem Stand der Technik noch nicht ausreichend und massengetestet sicher“, so Maik Außendorf, der digitalpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag.

Digitale Wahlen sind von höherem Misstrauen geprägt

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts beinhaltet noch einen weiteren Aspekt. Die physische Stimmabgabe bei Wahlen sei für die meisten Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar und verständlich, so Sven Herpig, Leiter für Cybersicherheitspolitik und Resilienz bei der Stiftung Neue Verantwortung. „Bei vollständig digitalisierten Wahlen kann immer der Gedanke mitspielen, an welcher Stelle die Wahl manipuliert sein könnte“, sagt er. Und weiter: „Diese Wahrnehmung macht uns nach außen verwundbar.“ Ausländische Nachrichtendienste und andere Akteure könnten sich diesen Umstand zunutze machen und bewusst Angst schüren. „Dann haben wir ein Problem, das ganz unabhängig von Fehlern bei der Wahl ist.“

Christoph Bieber sieht durchaus ähnliche Probleme bei der Briefwahl. „In Deutschland herrscht ein besonderes Klima in den Debatten um Wahlen und Technik“, erklärt er. Gleichzeitig könnten bei der Briefwahl ähnliche Dinge infrage gestellt werden wie bei der digitalen Wahl. Dazu zählen beispielsweise die Transparenz und Sicherheit bei der Stimmabgabe. Am Ende sei unbekannt, wer den Stimmzettel ausgefüllt hat und ob der Brief an der entsprechenden Stelle angekommen ist.

Auch interessant: Zu extrem für Europas Rechte: Ist die AfD in der EU am Ende?

Digitale Wahlen sind kein Retter für die Wahlbeteiligung

Während die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen in den 70er- und Anfang der 80er-Jahre bei teilweise über 90 Prozent lag, gaben bei der Bundestagswahl 2021 knapp 77 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Eine digitale Stimmabgabe beispielsweise in Form einer Wahl-App sei aber nicht die Lösung für eine sinkende Wahlbeteiligung, so Alexander Wuttke. Der Professor für Digitalisierung und Politisches Verhalten an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat eine andere Erklärung. „Die Hoffnung basiert auf der Idee, dass der Zeitaufwand die Menschen vom Wählen abhält“, sagt er. „Oft fühlen sich die Menschen nicht wahrgenommen und von der Politik vertreten.“ Daran würde auch eine Wahl-App nichts ändern. „Die Mehrheit der Deutschen hat das Vertrauen in die Politik verloren.“ Und weiter: „Sie unterstützen zwar die Demokratie, aber sie sind vom Prozess enttäuscht.“ Folglich entstehe der Eindruck, dass die Stimmabgabe bei Wahlen nutzlos sei.

Ähnliches berichtet Sven Herpig von der Stiftung Neue Verantwortung. Im ersten Schritt müsse festgestellt werden, was die Ursachen für eine sinkende Wahlbeteiligung seien. Die Wahl an einem Sonntag in einem Wahllokal in der unmittelbaren Umgebung oder per Briefwahl sei bereits relativ niederschwellig. In Bezug auf die Wahl-App sagt er: „Wir denken oft, wir haben eine Lösung, ohne das Problem wirklich zu verstehen.“

Alexander Wuttke ist Professor für Digitalisierung und Politisches Verhalten an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Alexander Wuttke ist Professor für Digitalisierung und Politisches Verhalten an der Ludwig-Maximilians-Universität München. © LC Productions | LC Productions

Lesen Sie auch: Digitale Wüste: So könnten Bürger ihre Behörden verklagen

Die Wahl-App als Chance für kleine Wahlen

Ist eine Wahl-App damit komplett ausgeschlossen? Nein, schätzt Norbert Pohlmann, Professor für Cybersicherheit an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen. „Heute sind wir in Deutschland noch nicht bereit“, sagt er in Bezug auf die technischen Voraussetzungen. Pohlmann geht davon aus, dass sich dieser Umstand in den kommenden fünf bis zehn Jahren ändern wird. Auch in der Politik ist eine Wahl-App aktuell kein Thema. Maik Außendorf, digitalpolitischer Sprecher der Grünen, sagt dazu: „Generell würde ich es aber nicht ausschließen, dass wir die Bürger-ID in Zukunft auf eine Weise weiterentwickeln können, sodass auch digitale Wahlen möglich sind.“ Und weiter: „Es könnte Sinn machen, damit bei kleineren Wahlen zu beginnen – etwa auf kommunaler Ebene oder in Verbänden – und die technische Infrastruktur dann allmählich zu skalieren.“

Auch die estnische Regierung ist mit ihrer Wahl-App noch nicht am Ziel. Sie sollte ursprünglich zur Europawahl einsatzbereit sein, doch dazu kommt es jetzt nicht: Zunächst muss die App noch ganz genau auf ihre Sicherheit geprüft werden. Schließlich haben Cyberangriffe zuletzt zugenommen. Erst wenn die App auf Herz und Nieren gecheckt ist, kann mit der technischen Umsetzung begonnen werden.