Berlin. In Teilen der Hauptstadt muss noch einmal gewählt werden. Was das für Bundestag, Ampel und Sahra Wagenknecht bedeutet – ein Überblick.
Vor gut zweieinhalb Jahren kam es bei der Wahl in Berlin zu chaotischen Szenen: Lange Warteschlangen, fehlende Stimmzettel und Öffnungszeiten weit über 18 Uhr hinaus weckten Zweifel, ob die Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses und des Bundestages rechtens war. Vergangenes Jahr waren alle Berliner erneut zur Landtagswahl aufgerufen. Am Dienstagmorgen entschied das Bundesverfassungsgericht nun, inwieweit dies auch für die Bundestagswahl gilt. Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Urteil aus Karlsruhe:
Was ist der Hintergrund des Gerichtsurteils?
Am 26. September 2021 fanden in Berlin gleichzeitig Landtagswahlen, Bundestagswahlen, Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung und ein Volksentscheid statt, bei denen im Nachhinein einige Unregelmäßigkeiten dokumentiert wurden. Beim Bundestag gingen 1713 Einsprüche gegen die Wahl ein, unter anderem eine des heutigen Bundeswahlleiters.
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Der dafür vorgesehene Wahlprüfungsausschuss beschäftigte sich daraufhin mit den Beschwerden und erklärte die Wahl in 431 Wahlbezirken für ungültig. Mit Stimmen der Ampel-Regierung beschloss der Bundestag am 10. November 2022 Neuwahlen in diesen Wahlbezirken. Die Unionsfraktion legte dagegen Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein und forderte, die Wahl in den gesamten Wahlkreisen für ungültig zu erklären.
Was ist anders als bei der Landtagswahl?
Über die Wiederholung von Landtagswahlen entscheidet direkt das zuständige Verfassungsgericht. In diesem Fall hatten die Berliner Richter geurteilt, die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus wegen „schwerer systematischer Mängel“ komplett zu wiederholen. Im Bund hingegen stimmt der Bundestag über die Empfehlung des Wahlprüfungsausschusses ab. Erst durch die Klage der Union landete der Fall vor Gericht.
Wie hat das Gericht entschieden?
Die Karlsruher Richter entschieden überwiegend zugunsten der Ampel-Koalition und nahmen lediglich Korrekturen im Detail vor. „Der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 10. November 2022 ist im Ergebnis überwiegend rechtmäßig“, heißt es. Sie fügten den bereits 431 angezweifelten Wahlbezirken lediglich weitere 31 hinzu. Zudem annullierten sie die Wahlwiederholung in sieben Wahlbezirken. Insgesamt müssen die Berliner also in 455 Wahlbezirken erneut wählen, was etwa einem fünftel der Stadt entspricht. Wichtig zu beachten ist die Anmerkung des Gerichtes: „Die Wiederholungswahl ist als Zweistimmenwahl – das heißt mit Erst- und Zweitstimme – durchzuführen“, sagte Vizepräsidentin Doris König.
Wie begründet das Gericht die Entscheidung?
Das Gericht präsentierte eine lange Liste, welche Fehler im Detail moniert werden. Grundsätzlich kritisierten die Richter sowohl die Vorbereitung als auch die Durchführung. Dazu zählt etwa, dass den Wahlvorständen der Wahlbezirke die Stimmzettel nicht in ausreichender Menge vorlagen. Außerdem seien Wahllokale zwischenzeitig geschlossen worden oder nicht Stimmberechtigte hätten ihre Stimme für den Bundestag abgegeben.
Wann wird neu gewählt?
Laut Gesetz muss die Wiederholungswahl 60 Tage nach Urteilsverkündung stattfinden. Landeswahlleiter Stephan Bröchler legte die Wahl kurz nach der Urteilsverkündung auf den letztmöglichen Termin, also den 11. Februar fest. Damit bleiben der Hauptstadt 54 Tage Zeit, um die Wahl vorzubereiten.
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Was kritisiert das Gericht an der Entscheidung?
Zwar hat das Gericht dem Einspruch der Union nicht stattgegeben. Allerdings ist der Bundestagsbeschluss der Ampel auch nicht ein zu eins übernommen worden. „Der Bundestag hat das Wahlgeschehen jedoch unzureichend aufgeklärt, da er auf die gebotene Beiziehung und Auswertung der Niederschriften der einzelnen Wahlbezirke verzichtet hat“, urteilte Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht hätte dies entsprechend nachgeholt.
Was heißt das Urteil für den Bund?
An den tatsächlichen Machtverhältnissen im Bundestag wird das Urteil nicht rütteln, schließlich sind nur rund ein Fünftel der Berliner erneut zur Stimmabgabe aufgerufen. „Die Auswirkungen werden sehr überschaubar sein“, sagt der Wahlforscher Thorsten Faas dieser Redaktion. Dennoch könnten sich einzelne Mandate innerhalb der Parteien verschieben. Hier ist entscheidend, dass in den betroffenen Wahlbezirken auch die Erststimme erneut abgegeben muss. Sie entscheidet, welcher Politiker für seinen Wahlkreis direkt in den Bundestag einziehen darf.
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Warum fürchtete die Linke das Urteil?
Für die Linken im Bundestag hängt ihre Existenz an dem Urteil: Nach der Bundestagswahl 2021 war die Linkspartei mit 4,9 Prozent knapp an der Fünfprozenthürde gescheitert. Sie konnte sich damals ihren Fraktionsstatus lediglich durch drei Direktmandate sichern. Zwei davon holten Gregor Gysi und Gesine Lötzsch in Berlin. Nach der Abspaltung des Bündnisses Sahra Wagenknecht wollen sich beide Flügel als Gruppe im Bundestag konstituieren. Unabhängig davon sind die 39 Abgeordneten beider Gruppen auf alle drei Direktmandate angewiesen. Verlieren sie eines davon, müssen auch alle nicht direkt gewählten Abgeordneten das Parlament verlassen.
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Wie wahrscheinlich ist das?
Dass die Linke eines ihrer beiden Direktmandate verliere, sei praktisch ausgeschlossen, urteilt Wahlforscher Faas. Bereits vor dem Urteil war klar, dass in einigen Wahlbezirken der Wahlkreise von Lötzsch und Gysi nachgewählt werden muss. Durch das Gerichtsurteil kamen lediglich bei Gysi sechs weitere hinzu. Der Linken-Politiker hatte bei der letzten Wahl einen Vorsprung um gut 20 Prozentpunkte. Seine Kollegin Lötzsch hängte ihre Konkurrentin mit sechs Prozentpunkten ab. „Mit dem Urteil ist klar, dass wir im Bundestag bleiben und unsere Aufgabe als soziale Opposition weiter wahrnehmen werden“, sagte Ex-Fraktionschef Dietmar Bartsch der Deutschen Presse-Agentur.
Was heißt das Urteil über den konkreten Fall hinaus?
Die Wahl in Berlin stellt bislang einen einmaligen Fall in der Geschichte der Bundesrepublik dar. Die Richter urteilten also auch darüber, wie Fehler bei einer Wahl zu gewichten sind. „Das Gericht hat vor allem einige Konkretisierungen vorgenommen, etwa eine einstündige Wartezeit oder auch Schließungen bis 18.30 Uhr“, sagt Faas. „Beides ist durchaus akzeptabel, erst danach ist von Wahlfehlern auszugehen.“