Kiew. Im ersten Kriegsjahr scheitern die Russen damit, die Großstadt Charkiw einzunehmen. Was nun Gerüchte um einen zweiten Versuch befeuert.

Schon zu Jahresbeginn kursierten in westlichen Medien Gerüchte, wonach Russland eine große Offensive in Richtung der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw vorbereiten könnte. Nach der Scheinwiederwahl von Präsident Wladimir Putin im März veröffentlichten gleich zwei oppositionelle russische Portale, Meduza und Wjorstka, ähnliche Berichte. Darin ist von einem Plan der russischen Militärführung die Rede, 300.000 Soldaten für den Angriff auf Charkiw mobilisieren zu wollen.

Die neuen Soldaten sollen demnach aber nicht für die Offensive selbst eingesetzt werden, sondern die russisch-ukrainische Grenze in der Region Belgorod absichern. Dadurch sollen erfahrenere Kämpfer freiwerden, um sie bei einer Schlacht um die Stadt Charkiw einsetzen zu können. Der Kreml plane, die Stadt nicht direkt zu stürmen, sondern sie zu umzingeln. Sowohl Meduza als auch Wjorstka berufen sich auf anonyme Quellen in und um die Präsidialverwaltung.

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Wie belastbar die Informationen der beiden russischen Exilmedien sind, ist schwer zu sagen. Es liegt außerhalb der Vorstellungskraft, dass kremlnahe Personen (selbst anonym) mit Reportern einer in Russland „unerwünschten Organisation“ sprechen würden – so wie es etwa bei Meduza der Fall ist. Die Redaktion hat ihren Sitz inzwischen in der lettischen Hauptstadt Riga. Denkbar ist deshalb, dass der Kreml gezielt solche Gerüchte streut, um in der Ukraine Angst zu verbreiten.

Selenskyj sieht Charkiw zumindest am Boden geschützt

Präsident Wolodymyr Selenskyj versuchte in einem Interview, das Anfang April im ukrainischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, Zuversicht zu verbreiten. „Charkiw ist heute geschützt“, sagte er, räumte aber ein, dass die Stadt weiter anfällig für Luftangriffe sei. Für die Verteidigung am Boden seien die Streitkräfte besser gerüstet. Nicht nur in Charkiw selbst, sondern auch in weiten Teilen des Front- und Grenzgebiets, hat die UkraineBefestigungsanlagen gebaut, um eine russische Offensive notfalls abwehren zu können. Die Frage ist, ob das ausreichen wird.

Ukrainische Panzersoldaten stehen am 24. November 2023 inmitten des russischen Einmarsches in die Ukraine auf einem Leopard 1A5-Panzer unweit der Frontlinie in der Region Charkiw.
Ukrainische Panzersoldaten stehen am 24. November 2023 inmitten des russischen Einmarsches in die Ukraine auf einem Leopard 1A5-Panzer unweit der Frontlinie in der Region Charkiw. © AFP | ANATOLII STEPANOV

Auch Selenskyj sprach, ebenso wie Wjorstka, von 300.000 russischen Soldaten, die der Kreml bis Juni mobilisieren könnte. Dem widerspricht allerdings, dass seit dem 1. April im Rahmen der saisonalen Einberufung für den regulären Wehrdienst rund 150.000 Menschen eingezogen wurden – zwar die höchste Zahl seit acht Jahren, allerdings auch nur wenige Tausende mehr als bei der letzten Einberufung im Herbst. Müssten die russischen Einberufungsämter zusätzlich 300.000 Reservisten zum Kriegsdienst einziehen, wären sie völlig überlastet.

Argumente, die für eine geplante Charkiw-Offensive sprechen, gibt es aber dennoch. Es liegt auf der Hand, dass Russland nach dem Auslaufen der großen Winteroffensive und bei besseren Witterungsbedingungen schon Ende Mai oder Anfang Juni wieder verstärkt angreifen wird. Zudem ist Charkiw, das nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist, allein wegen seiner Lage ein potenzielles Ziel. Putin selbst sprach davon, möglicherweise eine „Sanitärzone“ auf der ukrainischen Seite der Grenze zu errichten, um die Region Belgorod vom ukrainischen Beschuss zu schützen.

Ukraine-Krieg: Charkiw stand von Beginn an im Fokus

Schon zu Beginn des Krieges stand Charkiw im Fokus der russischen Streitkräfte. Zunächst hatten die Russen versucht, die Großstadt frontal anzugreifen – und waren damit gescheitert. Die Militärführung passte daraufhin die Strategie an: Charkiw sollte nun von Süden und Norden her umzingelt werden. Nur im Süden hatte sie damit zwischenzeitliche Erfolge. Eine blitzschnelle Gegenoffensive führte im September 2022 dann dazu, dass nahezu der gesamte Regierungsbezirk Charkiw von den Besatzern befreit werden konnte. Ein großer Triumph für die ukrainische Armee in diesem Krieg.

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Seit Monaten versuchen die russsichen Truppen nun, das ukrainische Gebiet am östlichen Ufer des Oskil-Flusses in der Stadt Kupjansk einzunehmen. Bislang ist das trotz der massiv eingesetzten Ressourcen nicht gelungen – doch um von Süden aus in Richtung der Stadt vorstoßen und Charkiw erneut umzingeln zu können, wäre die Einnahme von Kupjansk dringend notwendig. Auch andere Operationen mit diesem Ziel erfordern viel mehr Ressourcen, als Russland aktuell zur Verfügung hat und die ukrainischen Verteidigungsstellungen in der Region gelten als gut durchdacht.

Ein Rettungssanitäter arbeitet am 27. März vor einem durch russische Angriffe beschädigten Wohnhaus in Charkiw. I
Ein Rettungssanitäter arbeitet am 27. März vor einem durch russische Angriffe beschädigten Wohnhaus in Charkiw. I © AFP | SERGEY BOBOK

Das bringt die beiden ukrainischen Militäranalysten Kostjantyn Maschowez und Oleksandr Kowalenko zu einer erstaunlichen Einschätzung: Selbst die Mobilisierung von 300.000 weiteren Soldaten würde ihnen zufolge nicht ausreichen, um Charkiw zu erobern. Auch Roman Kostenko, Sekretär des Verteidigungsausschusses im ukrainischen Parlament und selbst aktiver Offizier, erklärte im ukrainischen Radio NV, dass solche Pläne aktuell eher unrealistisch seien.

Syrskyj: „Charkiw wird für die Russen zum fatalen Ort“

Ausgerechnet der neue ukrainische Befehlshaber Oleksandr Syrskyj, der im September 2022 für die Charkiw-Gegenoffensive verantwortlich war, gab sich in seinem ersten großen Interview im Amt weniger optimistisch. Informationen über russische Vorbereitungen auf eine hypothetische Charkiw-Operation dürften nicht völlig ignoriert werden, sagte er der Nachrichtenagentur Ukrinform. „Wenn die Russen noch einmal dorthin gehen, wird Charkiw für sie zum fatalen Ort.“

Dass in Russland Truppen in einer Größenordnung von 100.000 Soldaten neu gruppiert werden, beobachtet Oleksandr Pawljuk, Syrskyjs Nachfolger als Kommandeur der Landstreitkräfte, mit großer Aufmerksamkeit. Gut möglich, dass sie bei der neuen russischen Offensive eingesetzt werden könnten. In Charkiw ist es schon jetzt alles andere als ruhig. Seit Wochen greifen die Russen die Energieinfastruktur an, immer wieder fällt der Strom aus. Zuletzt wurden bei russischen Beschuss auch ein Kindergarten, ein Café, eine Autowaschanlage und eine Tankstelle getroffen.

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