Washington. Problem-Knäuel: Der US-Präsident, der israelische Premier, das Schicksal palästinensischer Zivilisten und die Wahl gegen Donald Trump.
Wer Joe Bidens Außenpolitik verstehen will, muss Tom Friedman lesen. Der mehrfach mit dem Pulitzer-Preis gekrönte Kolumnist der „New York Times“ gehört zu den wenigen publizistischen Wegbegleitern, die das Ohr des US-Präsidenten haben und in ihren Leitartikeln mitunter vorempfinden, was den Mann im Weißen Haus umtreibt.
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Darum fiel auf, als Friedman vor wenigen Tagen konstatierte, Israel sei durch die Art und Weise, wie es die radikal-islamische Hamas in Gaza unter Inkaufnahme horrender ziviler Opferzahlen bekämpft, „radioaktiv“ geworden. Wer mit gesundem Menschenverstand auf die Lage blicke, müsse anerkennen, dass „hier etwas furchtbar schiefgelaufen ist“, so Friedman. Dass Tausende Kinder bei den Angriffen gegen die Hamas ums Leben gekommen sind, viele vor Hunger sterben und der größte Teil von Gaza eine „Einöde aus Tod und Zerstörung“ geworden sei, sei ein „Schandfleck für den jüdischen Staat“.
Joe Biden, so Eingeweihte, würde wohl jedes Wort unterschreiben.
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Biden steht zwar seit 50 Jahren eng an der Seite Israels. Doch sein Unverständnis über die Hartleibigkeit des Premierministers hat sich bis zur offenen Feindseligkeit hochgeschaukelt. Der vorläufige Gipfel: Biden bezeichnet den geplanten Einmarsch Israels in Rafah im Süden Gazas als das Überschreiten einer „roten Linie”. „Bibi” Netanjahu lenkt aber bisher nicht ein. „Entweder Israel oder Hamas“, gab er als Antwort, „dazwischen gibt es nichts.“ Biden befürchtet angesichts von 1,5 Millionen Zivilisten auf engstem Raum eine Katastrophe.
Bei einem direkten Telefonat versuchte Biden Netanjahu die Invasion auszureden. Das Hauptziel, die Ausschaltung der Hamas, sei auch auf anderen Wegen zu erreichen. Stattdessen würde eine große Bodenoffensive „zu mehr unschuldigen zivilen Toten führen, die bereits schreckliche humanitäre Krise verschlimmern, die Anarchie in Gaza vertiefen und Israel international weiter isolieren“, erklärte Bidens Nationale Sicherheitsberater, Jake Sullivan. Anfang kommender Woche soll eine hochrangige Delegation Israels in Washington über eine Alternative ins Bild gesetzt werden. Ob‘s fruchtet, weiß niemand.
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Biden: „Humanitäre Hilfe darf keine Verhandlungsmasse sein“
Intern hatte der US-Präsident Netanjahu als „Arschloch” bezeichnet, weil er die Appelle, bei allen militärischen Aktionen mehr Rücksicht auf die palästinensische Zivilbevölkerung zu nehmen, in den Wind schieße. Beleg: Über 31.000 Tote, Tendenz steigend, davon ein Drittel Terror-Kämpfer. Netanjahu nimmt sich davon aus US-Sicht nichts an.
In seiner Rede zur Lage der Nation versicherte Biden dem einzigen echten Partner der USA im Nahen Osten zwar weitere (diplomatische wie militärische) Unterstützung, machte aber klar: „Humanitäre Hilfe darf keine nachrangige Frage sein oder Verhandlungsmasse. Humanitäre Fragen müssen Priorität haben. Und wenn wir in die Zukunft blicken, dann ist auf Dauer eine Zwei-Staaten-Lösung der einzige Weg.“ Auch davon will Netanjahu nichts wissen.
Unterdessen zieht das demokratische Washington die Daumenschrauben rhetorisch an. Erst ließen US-Geheimdienste, ungewöhnlich genug, in ihrer jährlichen Analyse zu weltweiten Bedrohungen durchsickern, dass Netanjahu politisch abgewirtschaftet habe. „Wir erwarten große Proteste, in denen sein Rücktritt und eine Neuwahl verlangt werden”, heißt es dort unter anderem. Zusatz: Eine „andere, moderatere Regierung“ sei möglich.
Dann setzte sich mit Chuck Schumer der ranghöchste jüdische Spitzen-Demokrat im Senat auf den Zug. Der Politiker aus New York, der Israel über vier Jahrzehnte kontinuierlich verteidigt hat, forderte bei einer 40 Minuten langen Rede Neuwahlen in Israel, weil Netanjahu zum „Hindernis für den Frieden“ geworden sei und „nur zu bereit ist, die hohen Zahlen ziviler Opfer im Gazastreifen zu tolerieren“.
Dadurch sinke die internationale Unterstützung für Israel „auf historische Tiefstände”, das Land drohe zum „Paria”, zum Aussätzigen, zu werden. Schumers Attacke markiert eine Zäsur, noch nie gab es von Demokraten einen so unverhohlenen Einmischungsversuch in die israelische Politik.
Obendrein verlangen acht einflussreiche demokratische Senatoren, darunter der frühere Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders, die sofortige Einstellung aller Waffenlieferungen an Israel, solange dort die Bereitstellung amerikanischer humanitärer Hilfe blockiert oder eingeschränkt wird. Sie beziehen sich auf ein entsprechendes Gesetz, den „Foreign Assistance Act”.
Geht Biden so weit? Der Israel-Kenner und Publizist Aaron David Miller glaubt das nicht. Biden habe Israel seit dem Hamas-Attentat vom 7. Oktober vergangenen Jahres rückhaltlos unterstützt und das Selbstverteidigungsrecht des jüdischen Staates gegen die Hamas-Terroristen bei jeder Gelegenheit hochgehalten. Er flog nach Israel und umarmte Netanjahu als einer der ersten westlichen Staatsmänner.
Aber er sieht auch, dass ihm acht Monate vor der Präsidentschaftswahl gegen Donald Trump nicht nur massenhaft junge Wähler von der Fahne gehen, die seine Politik ursächlich mit der humanitären Katastrophe in Gaza in Verbindung bringen. Sondern auch arabisch-stämmige Wählerinnen und Wähler in wichtigen Bundesstaaten wie Michigan. Bei den Vorwahlen dort hatten über 100.000 Wähler unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie mehr Druck auf Netanjahu ausgeübt sehen wollen. Und dass sie ohne einen dauerhaften Waffenstillstand Joe Biden am 5. November definitiv die Stimme verweigern wollen.