Washington. Bei seinem letzten großen Auftritt im Kongress vor der Wahl im November reitet der US-Präsident harte Attacken gegen Donald Trump.
Wer als Präsident gegen ein gespaltenes Land wie die USA anreden muss, das sich trotz ermutigender Wirtschaft-Koordinaten in weiten Teilen in den Kopf gesetzt hat, beim Vorgänger sei vieles besser gewesen, muss zügig den richtigen Ton setzen. Joe Biden entschied sich darum bei seiner letzten „Rede zur Lage der Nation” (State of the Union) vor der Wahl im November am Donnerstagabend für den Frontalangriff.
Ohne seinen mutmaßlichen Herausforderer auf republikanischer Seite auch nur ein einziges Mal beim Namen zu nennen, grenzte sich der demokratische Präsident und Spitzenkandidat für den 5. November unmissverständlich von Donald Trump ab. „Mein Leben hat mich gelehrt, Freiheit und Demokratie anzunehmen. Eine Zukunft, die auf den Grundwerten basiert, die Amerika definiert haben: Ehrlichkeit, Anstand, Würde, Gleichheit. Jeden zu respektieren. Jedem eine faire Chance zu geben. Dem Hass keinen sicheren Hafen zu geben.“
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Vor den versammelten Senatoren und Kongressabgeordneten, den obersten Richtern und Generälen im Kapitol von Washington fügte Biden hinzu: „Einige andere Leute in meinem Alter sehen eine andere Geschichte: eine amerikanische Geschichte von Feindseligkeit, Rache und Vergeltung. Das bin nicht ich.”
Bidens Grundwerte: Ehrlichkeit, Anstand, Würde, Gleichheit
Dass Trump bis heute die von ihm verlorene Wahl von 2020 als „gestohlen“ bezeichnet und die Wahrheit über den blutigen Sturm auf das Kapitol „vertuschen“ wolle, ließ der 81-Jährige, der über die gesamte Redezeit von circa einer Stunde angriffslustig und ohne Durchhänger war, nicht durchgehen: „Man kann sein Land nicht nur lieben, wenn man gewinnt.“ An dieser Stelle übertönten die Begeisterungsrufe der Demokraten im Saal zum ersten Mal die lautstarke Geringschätzung der Republikaner.
Acht Monate vor dem Urnengang genehmigte sich Biden, halb Weltenlenker, halb Landesgroßvater, eine doppelte Portion wirtschaftlichen Populismus. Was er über höhere Steuern für Reiche und Großunternehmen vorschlug, reziprok: geringere Abgaben für Kleinverdiener, ließ gewiss die Herzen von Gewerkschaftern und des linken Flügels der Partei höher schlagen. Chancen auf Verwirklichung haben die Umverteilungsprojekte angesichts der Mehrheitsverhältnisse bis in den Senat nicht.
Dass die USA im Weltmaßstab betrachtet blendend aus der Corona-Krise mit all ihren Verwerfungen gekommen sind, ließ Biden natürlich nicht unerwähnt. „Ich bin mit dem festen Willen ins Amt gekommen, uns durch eine der schwierigsten Zeiten in der Geschichte unseres Landes zu bringen. Und das haben wir. Es schafft es nicht in die Nachrichten, aber in Tausenden von Städten und Gemeinden schreibt das amerikanische Volk die größte Comeback-Geschichte, die nie erzählt wurde.“
Biden: „Das amerikanische Volk beginnt, es zu fühlen“
Biden zählte hier seine Trümpfe auf. Von der niedrigen Arbeitslosenquote, der nachlassenden Inflation, den gesunkenen Benzinpreisen, der brummenden Konjunktur bis zu den milliardenschweren Investitionsprogrammen in Straßen, Brücken und Tunnel, in grüne Energien und Halbleiter.
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Dass viele Amerikaner die Lage anders, nämlich weniger rosig empfinden und sehnsüchtig darauf warten, dass sich die Wirtschaftspolitik der Regierung in ihrem Portemonnaie niederschlägt, stellte Biden nicht in Abrede. „Das braucht Zeit, aber das amerikanische Volk beginnt, es zu fühlen“, sagte der Präsident und versprach bei einem der größten Zankäpfel, den unerschwinglichen Kosten für den Kauf eines Einfamilienhauses, durch Steuer-Erleichterungen zu helfen.
Im Dauerstreit um die illegale Einwanderung an der Grenze zu Mexiko warf Biden der Gegenseite vor, ein in der Schublade liegendes konsensfähiges Konzept zur teilweisen Linderung der Probleme – unter anderem mithilfe von mehr Grenzschützern und mehr Richtern für die Asylverfahren – auf Drängen seines Vorgängers unangetastet zu lassen. Das sei verhängnisvoll. Mit Blick auf skandalöse Äußerungen Trumps sagte er: „Ich werde Einwanderer nicht verteufeln und sagen, sie seien Gift im Blut unseres Landes.“
Biden warnt davor, Putins Gefährlichkeit zu unterschätzen
Von zentraler Bedeutung war Bidens Ansage beim Kulturkriegs-Thema Nummer eins: Abtreibung. Er versprach, den vom Obersten Gerichtshof herbeigeführten und von den Republikanern und ihrem Spitzenkandidaten Trump gelobten Flickenteppich (alle 50 Bundesstaaten können nach Belieben schalten und walten) einzurollen und das landesweite Recht auf Schwangerschaftsabbruch wieder herzustellen, wenn der Kongress ihm ein entsprechendes Gesetz präsentiert.
Anders als im vergangenen Jahr, als ultra-radikale Republikaner wie Marjorie Taylor Greene und Lauren Boebert den Präsidenten mehrfach unterbrachen und einen Lügner nannten, hielten sich Hohngelächter und Buhrufe der Opposition dieses Mal in Grenzen. Die wenigen echten Attacken parierte Biden souverän. Er schien sogar diebische Freude daran zu haben, die Gegenseite mit Sprüchen zu provozieren.
Um das verbreitete Urteil zu kontern, er sei mit 81 Jahren entschieden zu alt und gebrechlich für das höchste Staatsamt, hatten die Redenschreiber ihm zwischen Passagen staatsmännischer Unangreifbarkeit immer wieder Abschnitte kämpferischer Leidenschaft eingepflegt. Die Krönung: „Es geht nicht darum, wie alt wir sind, es geht darum, wie alt unsere Ideen sind.“ Biden ließ bei seinem Mix aus Rechenschafts- und Bewerbungsrede trotz einiger Vernuschler keinen Zweifel an seiner Vitalität und Ausdauer. Die Dämonen des Alters und Alterns, sie waren vorübergehend begraben.
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