„All you need is love“, sangen einst die Beatles. Wie sieht es heute aus? Forscher sagen: Nur wer sich selbst liebt, erfährt Liebe von anderen. .
„Jedes Lebewesen liebt sich selbst“, sagte der römische Philosoph Cicero im ersten vorchristlichen Jahrhundert. „All you need is love“, sangen die Beatles 1967. Wie sieht es mit der Liebe und der Selbstliebe heute aus? Gibt es das eine ohne das andere?
Liebesbeziehungen gehen heute oft schnell in die Brüche, Dating-Apps haben Hochkonjunktur. Wenn der Partner nicht passt, sucht man sich den nächsten. Bücher, Ratgeber und Seminare widmen sich dem Thema, das unser Leben wesentlich prägt. Bereits Denker wie Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche und Jean-Jacques Rousseau setzten sich damit auseinander. Regisseurin Helena Hufnagel zeigt in ihrem Kinofilm „Generation Beziehungsunfähig“ junge Menschen, die das Ghosting, das plötzliche wortlose Verschwinden aus dem Leben des Partners, perfektioniert haben. Über die Hauptfigur Tim hieß es in einer Filmkritik: „Beziehungen verbraucht er wie Einwegkaffeebecher.“
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Ständige Verfügbarkeit auf Dating-Plattformen
Dating-Plattformen wie Tinder ökonomisieren die Liebe. Das begehrte Objekt ist ständig verfügbar. „Lohnen“ sich Beziehungen noch, oder ist der emotionale Aufwand für Bindungen zu hoch? In seinem gesellschaftskritischen Bestseller „Die Kunst des Liebens“ setzte sich Psychoanalytiker Erich Fromm mit Liebe und Selbstliebe auseinander. Das romantische Verständnis der Liebe, das im 20. Jahrhundert in der westlichen Welt dominiere, rege zu einem marktwirtschaftlichen Verhalten bei der Liebe an, schrieb Fromm 1956. Das Gegenüber, das einen vermeintlich zu wenig liebt, verursache scheinbar auftauchende Probleme. Fromm rät: „Richte die Perspektive auf Deine eigene Fähigkeit zu lieben, die Kunst des Liebens.“ Selbstliebe sei die Grundlage dafür, andere Menschen lieben zu können, beides hänge grundlegend zusammen.
Der Buchtitel „Kunst des Liebens“ verdeutlicht jedoch, dass Lieben gar nicht so einfach ist. Oft türmen sich Missverständnisse auf. Unser Unterbewusstsein führt uns zuweilen auf dornige Liebespfade. Psychotherapeutin Andrea Jolander erklärt in ihrem Buch „Treffen sich zwei Neurosen“, warum unser Verstand bei der Partnerwahl schonmal aussetzt. Bereits früh im Leben prägen uns kindliche Beziehungserfahrungen, die uns unbewusst weiter begleiten. Wir erlernen als Kinder bestimmte Rollenbilder wie „typisch weiblich“ und „typisch männlich“, die unsere Identität prägen und auch die Partnerwahl. Anhand amüsanter Beispiele entlarvt Andrea Jolander unser Unterbewusstsein und weckt so Verständnis für uns und die anderen.
In der Kino-Komödie „Ich bin dein Mensch“ erzählt Regisseurin Maria Schrader von einer Liaison zwischen einer Frau und einem humanoiden Roboter. Ob man sich wirklich in einen Roboter verlieben kann, hat die deutsche Gesellschaft für Informatik in einer Studie gefragt. Das Ergebnis: Immerhin glaube jeder fünfte Beteiligte, dass es zukünftig normal sein wird, sich in Maschinen mit künstlicher Intelligenz zu verlieben, in Ostdeutschland jeder vierte. Und 29 Prozent der 15- bis 29-Jährigen halten romantische Gefühle für einem Roboter für möglich.
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Selbstmitgefühl und Selbstwert ermöglichen gute Beziehungen
„Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ bezeichnete Jesus als das zweitwichtigste Gebot. Diplom-Sozialwissenschaftlerin Anette Maaßen-Boulton erläutert: „Im neuen Testament ist die Rede davon, in uns selbst und im Anderen Gott zu lieben. Jesus sagt, dass alle Menschen Ebenbilder Gottes sind. Wir sind aufgerufen, in uns und Anderen das Göttliche zu finden und das Gute zu sehen. Liebe und Selbstliebe gehören zusammen. Vergleichbares gilt im Buddhismus: Jedes Wesen, jeder Mensch hat eine innewohnende Buddha-Natur, alles ist schon da. Unsere wahre Natur muss aber erst freigelegt werden, denn es gibt viele falsche Wahrnehmungen. Wenn wir uns auf diesen Weg begeben, haben wir ein anderes Menschenbild. Für viele Menschen ist das aber kein gelebter Alltag. Wenn wir uns dazu entschließen, ist das eine lebenslange Aufgabe.“
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Selbstliebe definiert Maaßen-Boulton als „Selbstannahme auch mit dem, was mir nicht gelingt, Selbstfürsorge und eine ehrliche, zugewandte Freundschaft mit mir selbst“. Sich unabhängig von Leistungen selbst zu lieben, sei in unserer Leistungsgesellschaft sehr wichtig und gewinne in Krisen und bei Krankheit umso mehr an Bedeutung. „Dann zählt, was ich mir jenseits von Leistung wert bin. Wenn ich geliebt und akzeptiert werde, stärkt das meine Selbstannahme, und dann kann ich auch andere mehr lieben.“
Die Psychologin Professor Astrid Schütz unterscheidet zwischen Selbstwert und positiver Selbstbewertung sowie Selbstmitgefühl. „Selbstmitgefühl würde ich als wahre Selbstliebe bezeichnen. Forschung hat gezeigt, dass stabiler Selbstwert mit der Fähigkeit verbunden ist, auch mit anderen in gute Beziehungen treten zu können. Personen, die mitfühlend mit sich selbst sind, zeigen eher positives Beziehungsverhalten. Sie sind eher unterstützend und fürsorglich als kontrollierend und aggressiv. Selbstmitfühlende Personen erleben weniger Eifersucht.“
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In unserer Gesellschaft ist Anerkennung an Leistung gekoppelt
Gibt es denn ein gelingendes Leben ohne Selbstliebe? Astrid Schütz, die das Kompetenzzentrum für Angewandte Personalpsychologie der Universität Bamberg leitet, erklärt: „Selbstmitgefühl ist eine wichtige Quelle für unser Wohlbefinden und ein erfülltes Leben. Gerade in Bezug auf Depressivität und Angst zeigen sich deutliche Zusammenhänge.“ Anette Maaßen-Boulton bestätigt das. Sie berät seit Jahrzehnten Menschen in Krisen, seit 2014 in der Burn-out Brücke, einer Beratungsstelle in Baden-Württemberg. „In meinen Beratungen spielt Selbstliebe eine zentrale Rolle“, erzählt Maaßen-Boulton. „Burnout hat viel mit Selbstüberforderung zu tun. Wir alle haben Konzepte von uns selbst, wie wir sein sollen. Selbstliebe bedeutet, Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen aufzunehmen und sich so anzuerkennen, wie man wirklich ist.“
Die Sozialwissenschaftlerin kritisiert das überhandnehmende Leistungsdenken in unserer Gesellschaft. „Das fängt schon in der Schule an: Anerkennung gibt es für Leistung.“ In der Beratungsstelle suchen oft Menschen Rat, die sich in ihrem Beruf aufreiben, immer auf der Suche nach der „Liebe“ ihrer Vorgesetzten.
Psychologin Schütz ergänzt, gesunde Selbstliebe könne nicht in Richtung Narzissmus oder Egozentrismus kippen. „Positive Selbstbewertung dagegen schon. Selbstmitgefühl basiert nicht auf einer Bewertung des Selbst und ist unabhängig vom Vergleich mit anderen. Wenn wir mitfühlend mit uns selbst sind, erkennen wir an, dass alle Menschen einmal scheitern oder Gefühle der Unzulänglichkeit erleben – das schafft eher ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen. Selbstmitfühlende Menschen werden in Partnerschaften eher als fürsorglich wahrgenommen.“ Selbstliebe zu üben, sei vermutlich eine lebenslange Aufgabe.
Anette Maaßen-Boulton verweist darauf, dass unsere erste Bindungserfahrung im Leben wesentlich dafür ist, ob wir uns selbst gut Freund sein können. „Wenn unsere Mutter uns liebt, bilden wir Urvertrauen, fühlen uns sicher und lernen durch dieses positive Modell, selbst zu lieben.“ Andere frühe Bezugspersonen wie Vater, Familie und Erzieher:innen tragen selbstverständlich dazu bei. „Die gute Nachricht ist, dass wir Selbstmitgefühl und Selbstliebe während unseres ganzen Lebens erwerben können, auch wenn unsere erste Bindung nicht optimal war. Das ist eine Erkenntnis der Resilienzforschung.“ Manche Menschen versöhnten sich erst kurz vor ihrem Tod mit sich und ihrem Leben.
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Wie man Kindern Selbstliebe beibringt
Damit Eltern und Personal in Kitas und Schulen den Kindern Selbstliebe beibringen können, empfiehlt Astrid Schütz Übungen, zum Beispiel „Selbstmitgefühlspause für Kids“ von Jörg Mangold, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Wenn ein Kind eine schwierige Erfahrung macht, kann man gemeinsam mit ihm üben, zunächst achtsam wahrzunehmen, was ist (‚Das fühlt sich bestimmt nicht gut für dich an‘). In einem zweiten Schritt kann man dann den Fokus darauflegen, dass es viele Menschen gibt, die eine solche negative Erfahrung auch schon mal erlebt haben („Das passiert vielen Leuten.‘). Und im letzten Schritt kann man eine selbstfreundliche Haltung üben (‚Was würdest du einem lieben Freund in deiner Situation sagen?‘).“
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Selbstliebe ist ein wichtiger Teil des umfassenderen Selbstwertgefühls, das wesentlich das Selbstbild bestimmt, und die Voraussetzung für einen wertschätzenden Umgang mit den Mitmenschen. Die Selbstliebe prägt, wie man mit seiner Umwelt umgeht – sie bildet das Fundament für ein gelingendes Leben. Ein anderer bedeutender Teil des Selbstwerts ist das Selbstvertrauen, also das Zutrauen in die Fähigkeit, das eigene Leben gestalten und eigene Ziele erreichen zu können.
Die Bedeutung der Selbstliebe betont auch Psychologe Ulrich Orth: „Wer selbstbestimmt leben und für sich Verantwortung tragen möchte, braucht vor allem eines: die Fähigkeit, sich selbst zu lieben. Menschen, die sich lieben, bringen sich selbst Achtung und Respekt entgegen, nehmen die eigenen Bedürfnisse ernst, hören auf die Sprache ihres Körpers und verdrängen weder Gefühle noch Probleme.“ All das lasse sich auch im hohen Alter noch erlernen.
Für Kinder ist ein gutes Verhältnis zu Eltern und Freunden der Schlüssel
Für Kinder und Jugendliche seien vor allem ein gutes Verhältnis zu den Eltern, Anerkennung im Freundeskreis sowie schulische und sportliche Erfolge entscheidend. Auch bei Erwachsenen werde ein positives Selbstwertgefühl besonders durch einen hohen Bildungsgrad, berufliche Anerkennung, eine glückliche Partnerschaft und gute Sozialkontakte hervorgerufen. „Umgekehrt – und dieser Effekt ist sogar noch deutlich größer – trägt ein gesundes Maß an Selbstliebe auch entscheidend zu mehr Erfolg im Beruf und in der Partnerschaft bei“, so Orth.
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Eine Untersuchung der Universitäten Basel und California mit jeweils bis zu 7000 Probanden habe gezeigt, so Orth weiter, dass die Fähigkeit zur Selbstliebe ihren Höhepunkt zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr erreiche. Danach nehme sie wieder ab. Männer besitzen der Studie zufolge zwar oft ein höheres Selbstwertgefühl als Frauen, doch der typische Zeitverlauf betreffe beide Geschlechter. „In manchen Lebensphasen scheint die Fähigkeit zur Selbstliebe stabiler als in anderen zu sein. Als besonders empfänglich für äußere Einflüsse zeigte sich die Kindheit und Jugend, überraschenderweise aber auch das Seniorenalter. Das Selbstwertgefühl zu steigern, dürfte also in diesem Alter die größte Aussicht auf Erfolg haben.“
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