Tokio. Deutschland scheitert krachend an seinem Ziel, jährlich 400.000 neue Wohnungen zu bauen. Ein Ansatz aus Japan könnte die Lösung sein.
„So klein ist sie doch gar nicht, oder?“, fragt Kaoru Miyaguni in eine leere Wohnung hinein. Von diesem Objekt ist die Maklerin überzeugt: „Hier links haben Sie den offenen Wohnraum, daran anschließend den Essbereich mit Küchenzeile“, erklärt Miyaguni. „Auf der rechten Seite sind Bad und Toilette, getrennt begehbar. Und hinter der Küchenzeile das separierte Schlafzimmer.“ Kaoru Miyaguni deutet auch zufrieden auf einen kleinen Balkon, und gibt zu verstehen: Hier könne man doch wunderbar leben. „Sie sollten sich beeilen“, bemerkt sie. „Ein Objekt wie dieses hier ist begehrt.“
Die Wohnung, die die Tokioter Maklerin Kaoru Miyaguni da gerade anbietet, ist durchaus etwas Ordentliches: Frisch renoviert, am Westrand des Stadtzentrums gelegen und zehn Minuten Fußweg zur nächsten U-Bahnstation, kostet sie 32 Millionen Yen (rund 200.000 Euro). Was Kaufinteressenten aus westlichen Ländern aber immer wieder erstaune, sagt sie, sei weniger der Preis als die Größe: Kaum 36 Quadratmeter zählt diese Wohnung. In Deutschland würde das als ziemlich klein gelten. Für Japans Hauptstadt ist das zumindest für einen Single schon fast Luxus.
Lesen Sie auch: Wohnungsnot: Bezahlbarer Neubau könnte so einfach sein
In Tokio, der mit einer Bevölkerung von 37 Millionen größten Metropolregion der Welt, ist Raum schon seit Jahrzehnten Mangelware. Auf platzsparendes Wohnen hat man sich hier längst eingestellt. Der Durchschnittsperson stehen hier nur rund 20 Quadratmeter Wohnraum zu Verfügung, was in etwa die Hälfte des Werts für Berlin ist. Aber wer einmal in Tokio gelebt hat, weiß aus Erfahrung: So viel Platz, wie den Menschen in Deutschland zur Verfügung steht, braucht man für ein komfortables Leben nicht unbedingt.
Japan: Wohnungsplanung mit maximaler Raumeffizienz
Die Wohnung, die Kaoru Miyaguni eben aufgeschlossen hat, besteht aus einer geräumigen Ess- und Wohnküche, hinzu kommt ein Schlafzimmer. Akasaka Real Estate, Miyagunis Arbeitgeber, führt solche Objekte besonders häufig in seinem Portfolio. Denn hier können nach japanischem Verständnis Singles, Paare und sogar Eltern mit einem kleinen Kind leben. Wie das funktionieren soll, zeigt die Maklerin, indem sie mehrere Kniffe des Gebäudes sowie Innendesigns zeigt – und immer wieder fällt die enorme Raumeffizienz auf, mit der Wohnungen hier geplant sind.
Da sind zum Beispiel die Schiebetüren, die beim Öffnen keinen Raum beanspruchen, stattdessen praktisch in der Wand verschwinden. Schränke sind häufig gleich schon in die Wand eingebaut, sodass sie ebenso – zudem mit Schiebetüren – nicht ins Zimmer ragen. Eine Küche spart nicht nur durch Oberschränke Platz, sondern manchmal auch durch ausziehbare Kochfelder. Und Bäder sind oft eine Art Nasszelle, die rundum aus wasserfestem Material besteht, sodass effektiv mehr Raum für den Dusch- und Badebereich bleibt, da Trocken- und Nassbereich kaum getrennt werden.
Auch interessant: Miete: Preise explodieren in deutschen Städten? Wo man noch günstig wohnen kann
Und wenn man sich wundert, wie viel Wohnen auf 36 Quadratmetern möglich ist, fragt man sich unweigerlich auch: Könnte Deutschland von dieser Art zu bauen etwas lernen? Als die Ampelregierung Ende 2021 ihren Koalitionsvertrag vereinbarte, wurde immerhin das mutige Ziel verkündet, im Jahr 400.000 neue Wohnungen zu bauen. Wie das funktionieren soll, ist bis heute nicht bekannt. Es gelingt jedenfalls nicht: 2022 waren es pro Jahr knapp 300.000 Einheiten, 2023 werden es noch weniger sein. Was aber, wenn man auf gegebenem Raum einfach mehr Wohneinheiten planen würde?
Japans Bau- und Wohnkultur als Vorbild für Deutschland?
Zu denen, die glauben, dass Japans Bau- und Wohnkultur ein Vorbild für Deutschland sein könnte, gehört Florian Liedtke. Er ist Doktorand an der TU Braunschweig und promoviert über nachhaltigen Städtebau in ostasiatischen Metropolen. Liedtke ist überzeugt: „Deutsche Städte könnten von Tokio einiges lernen. Das gilt auch, aber nicht nur für die Raumaufteilung von Wohnungen.“ In seiner Doktorarbeit geht Liedtke einen Schritt weiter und erklärt die gesamte Tokioter Stadtteilnutzung zum Positivbeispiel: „Hier werden diverse Lebensbereiche von der Wohnung nach draußen outgesourct.“
So fiel in der Wohnung, die die Maklerin Miyaguni gezeigt hat, etwa auf, dass nicht unbedingt eine Waschmaschine vorgesehen ist. Dafür gibt es aber in der direkten Nachbarschaft – manchmal auch direkt im Wohngebäude – einen günstigen Waschsalon. Weitere Beispiele sind die beliebten Karaokebars, die lautes Musikhören und -machen erlauben, zugleich als Treffpunkte unter Freunden gelten, weil die Kabinen sich günstig mieten lassen. An Straßenecken warten Schnellrestaurants, die Nudeln oder Reisgerichte anbieten. Großzügige Küchen braucht man in Tokio auch deshalb kaum.
Auch interessant: Rente: Warum die Japan-Methode in Deutschland kaum denkbar wäre
In Deutschland mag das unkomfortabel klingen, gerade zu heimatlos. Florian Liedtke aber sagt: „Durch das Outsourcing von Wohnfunktionen wird nicht nur knapper Platz gewonnen, was auch dabei helfen kann, die Preise von Wohnungen etwas zu drücken. Das Outsourcing erzeugt oft auch einen Mehrwert.“ Als Beispiel nennt Liedtke die traditionellen öffentlichen Waschhäuser von Tokio, die Sento, die in Japans Hauptstadt bis Mitte des 20. Jahrhunderts die Funktion von Badezimmern übernahmen. „Dort wäscht man sich ja nicht nur, man entspannt auch und begegnet sich.“
Japan: Wohnfunktionen werden geschickt ausgelagert
In den Jahrzehnten des japanischen Wirtschaftswunders kamen die Sento aus der Mode, modernere Wohnungen enthalten seither meist ein kompaktes Bad mit – wenn auch kleiner – Badewanne. Aber viele der alten Wohnungen gibt es noch, und in letzter erfreuen sie sich wieder zunehmender Beliebtheit. Das berichtet Natsuko Kashima. Sie arbeitet für das Unternehmen „Tokyo Sento Fudo-san“, das sich darauf spezialisiert hat, Wohnungen ohne Bad – und nur manchmal mit Dusche – ansprechend zu renovieren und günstig zu vermieten.
„Gerade bei Menschen mit geringem Einkommen oder solchen, die eine Zweitwohnung in Tokio brauchen, sind Wohnungen ohne Bad beliebt“, so Kashima. Denn durch die zusätzliche Einfachheit lassen sich Ein-Zimmer-Wohnungen für im Zentrum von Tokio für unschlagbare 70.000 Yen pro Monat (rund 430 Euro) anmieten. „Zentral hierfür ist, dass es in unmittelbarer Nähe ein Sento gibt, wo sich die Mieterinnen für wenig Geld waschen können.“ Kashima rechnet vor: „Ein Sentobesuch kostet 500 Yen. Wenn man jeden Tag hingeht, ist es meist günstiger, als eine Wohnung mit Vollbad zu mieten.“
Lesen Sie auch: Japan: Zu wenig Babys – Land zieht drastische Konsequenzen
Muss Deutschland nun beginnen, Wohnungen ohne Bäder zu planen, damit insgesamt mehr Wohneinheiten fertiggestellt werden? Nein, betont der Braunschweiger Forscher Liedtke. „Aber man könnte in Deutschland insofern von Tokio lernen, dass man sich ansieht, bei welchen Wohnbereichen es zur Lebenskultur passt, sie auszulagern.“ Eine lebendige Cafékultur, Co-Working-Spaces und Restaurants mit Indoorspielplätzen für Kinder gibt es immerhin schon. Je weniger Aktivitäten man in die eigenen vier Wände verlagert, desto weniger groß muss eine Wohnung sein – und desto sozialer wird das Leben.
Wohnungsnot in Deutschland: „Guter Zeitpunkt für Umdenken?“
Das Outsourcing der Wohnfunktionen, wie Florian Liedtke es nennt, begann in Tokio in den 1990er Jahren. Nach einem langen Wirtschaftsboom war Japan damals in eine tiefe Rezession geschlittert. In den Innenstädten war plötzlich viel Geschäftsfläche frei. Nudelrestaurants, Karaokebuden und Münzwaschsalons wurden immer beliebter. „Damit die breite Gesellschaft von diesem Angebot profitieren würde, musste natürlich alles finanziell niedrigschwellig sein“, so Liedtke. Einmal Waschen im Salon kostet meist 300 Yen (1,80 Euro), eine halbe Stunde eine Karaokekabine inklusive Getränk 640 Yen.
„In Deutschland ist die wirtschaftliche Lage heute recht schwierig. Vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für ein Umdenken“, sagt Florian Liedkte. In einem großen Dialog zwischen Bürgerinnen, Stadtplanern, Architektinnen und Unternehmen könnte man erörtern, welche Wohnfunktionen unbedingt in den eigenen vier Wänden erfüllt werden müssten – und welche draußen vielleicht sogar besser aufgehoben wären. Und dann ließe sich Platz sparen. Vielleicht so viel, dass 36 Quadratmeter komfortabel erscheinen – und in Deutschlands Städten endlich mehr Wohneinheiten gebaut werden.