Berlin. Die abschlagsfreie Altersrente ist beliebt wie nie zuvor. Doch Experten kritisieren sie als teuer und unfair – und mahnen Reformen an.
Ist die Zeit der Rentengeschenke vorbei? Das Beratungsgremium der Bundesregierung, der Sachverständigenrat Wirtschaft, prognostizierte unlängst eine langfristige Schieflage des deutschen Rentensystems. Immer weniger Erwerbsfähige, dafür umso mehr Rentenbezieher lautet die Formel, die die umlagefinanzierte staatliche Altersvorsorge in den nächsten Jahrzehnten ins Wanken bringen könnte. Ins Visier gerät nun das Erfolgsmodell „Rente mit 63“, bei dem besonders langjährig Versicherte nach 45 Versicherungsjahren abschlagsfrei in den Ruhestand gehen können. Für den deutschen Staat ist das allerdings kostspielig.
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Johannes Geyer, Rentenexperte vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), plädiert deshalb dafür, die „Rente mit 63“ gänzlich abzuschaffen. Martin Werding, Professor für Sozialpolitik und Mitglied des Sachverständigenrates, regt eine Reform an. „Zum Beispiel könnte eine abschlagsfreie Frührente dann nur noch Versicherten offenstehen, die pro Beitragsjahr weniger als 60 Prozent des Durchschnittsentgelts aller Versicherten verdient haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie besonders belastende Tätigkeiten ausgeübt haben und vor Erreichen der Regelaltersgrenze gesundheitlich am Limit sind, steigt dann deutlich an“, so Werding gegenüber unserer Redaktion.
„Rente mit 63“: Bezieher der abschlagsfreien Frührente sind oft gesund und werden am Arbeitsmarkt gebraucht
Werding zufolge wurde die abschlagsfreie Rente für besonders langjährige Versicherte eigentlich als Härtefallregel für Personen eingeführt, die nach langer, körperlich belastender Arbeit gesundheitlich kaum noch in der Lage sind, bis zur Regelaltersgrenze weiter in Beschäftigung zu bleiben. „Daten zum Gesundheitszustand derer, die die Regelung in Anspruch nehmen, zeigen, dass dieses Bild nicht zutrifft“, sagt der Wissenschaftler. Bezieher abschlagsfreier Frührenten seien überdurchschnittlich gesund und würden oft noch dringend als Fachkräfte gebraucht, so Werding.
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Die „Rente mit 63“ also nur noch für langjährige Geringverdiener? Kritik an dem Vorschlag kommt vom Sozialverband Deutschland (SoVD). Dessen Vorstandsvorsitzender Michaela Engelmeier sagt dieser Redaktion: „Sind es wirklich ‚die Falschen‘, die nach 45 Jahren etwas früher in Rente gehen können? Wir sagen nein! Denn an die 45 Jahre sind sehr strenge Voraussetzungen geknüpft. Statt diesen Personen einen etwas früheren Renteneintritt streitig zu machen, sollten die Bemühungen dahin gehen, dass möglichst viele Menschen ebenfalls in den Genuss einer abschlagsfreien Rente kommen und die Menschen gesund bis zur Rente arbeiten können.“ Diese Diskussion gehe völlig am Problem vorbei, so Engelmeier.
„Rente mit 63“: Im vergangenen Jahr stieg Zahl der Anträge auf Rekordhoch
Auch die SPD im Bundestag lehnt eine Reform ab. Das umlagefinanzierte Rentensystem stehe gut da, die demografische Lage sei weniger angespannt als erwartet, sagt der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher Martin Rosemann. „Wer 45 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt und ein Leben lang gearbeitet hat, der soll deshalb auch weiterhin ohne Abschläge zwei Jahre vor dem regulären Renteneintrittsalter in Rente gehen können. Das hat etwas mit Respekt vor der Lebensleistung und mit Wertschätzung von Menschen zu tun, die bereits früh ins Berufsleben eingestiegen sind“, so der Abgeordnete weiter. Auf dem Rücken der Rentnerinnen und Rentner sparen zu wollen, sei ohnehin der „völlig falsche Ansatz“.
Andrea Nahles (SPD), damals Bundesarbeitsministerin und heute Chefin der Bundesagentur für Arbeit, hatte die „Rente für besonders langjährig Versicherte“ ausgehandelt, die heute Deutschlands größtes Frühverrentungsprogramm überhaupt ist. Im zurückliegenden Jahr hatten rund 300.000 und damit so viele Menschen wie noch nie bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) den vorzeitigen Abschied aus dem Arbeitsleben beantragt. Die Rentenversicherung erklärt den Anstieg auf Anfrage mit den Geburtsjahrgangsstärken in der Baby-Boomer-Generation, die nun verstärkt in Altersrente gehen. Mittlerweile seien gut 30 Prozent aller Rentenzugänge der „Rente mit 63“ zuzuordnen, so die DRV.
Experte: So viel könnte der Staat sparen
DIW-Experte Johannes Geyer sieht auch in dem Wegfall der Hinzuverdienstgrenze einen Grund für die gestiegenen Rentenzugänge bei der Frühverrentung. „Damit sind die finanziellen Anreize, in Rente zu gehen, weiter gestiegen“, sagt Geyer. Vor 2023 durften Ruheständler lediglich 6300 Euro im Jahr hinzuverdienen, ohne dass ihnen die Rente gekürzt wird.
Vor dem Hintergrund hält der Experte auch Abschläge für Frührentner für hinnehmbar und ist deshalb für ein Aus der „Rente mit 63“. Geyer verweist auf das Einsparpotenzial: Das liege allein bei der Rentenkasse bei jährlich etwa drei Milliarden Euro, so der Rentenfachmann. Darüber hinaus würden Menschen, die sich dann dafür entscheiden, nicht in Rente zu gehen und stattdessen weiter zu arbeiten, für weitere Steuereinnahmen sorgen und auch Sozialversicherungsbeiträge weiter zahlen. Diesen fiskalischen Effekt beziffert Geyer auf weitere drei Milliarden Euro.
Wie alt Bezieher der „Rente mit 63“ sind und wie viel Bruttorente sie erhalten
Frührentner, die die „Rente mit 63“ beantragen, müssen nicht unbedingt 45 Jahre lang gearbeitet haben. Denn neben der beruflichen Tätigkeit werden zum Beispiel auch Wehr- und Zivildienst oder Zeiten für Pflege angerechnet. Mittlerweile ist der Begriff „Rente mit 63“ nur noch umgangssprachlich richtig. Bei Einführung konnten zwar noch alle vor 1953 Geborenen nach einer Versicherungszeit von 45 Jahren ohne Abschläge mit 63 Jahren in Rente gehen. Für alle zwischen 1953 und 1963 Geborene gilt das nicht mehr, da das Rentenalter schrittweise angehoben wird.
Inzwischen sei das Durchschnittsalter der Rentenzugänge bei der Altersrente für besonders langjährig Versicherte auf rund 64,1 Jahre geklettert, so die DRV. 2022 erhielten Empfänger bei dieser Form der Frühverrentung eine durchschnittliche Bruttorente in Höhe von rund 1.667 Euro. Die durchschnittliche Bruttorente aller Altersrentenzugänge 2022 lag hingegen nur bei rund 1.182 Euro.
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