Erbil. Unser Reporter Jan Jessen erlebt in Erbil den Angriff. Am Tag danach sind die Geschäfte und die Straßen voll, als sei nichts geschehen.

Es ist kurz nach halb zwölf, als Montagnacht das dumpfe Geräusch von Explosionen die Menschen in der kurdischen Regionalhauptstadt Erbil im Norden des Irak aufschreckt. Diesmal trifft es nicht wie zuletzt üblich die Peripherie des Flughafens der Stadt, in dessen unmittelbarer Nähe internationale Soldaten der US-geführten Anti-IS-Mission stationiert sind. In der Nacht schlagen fünf Geschosse in einer Villa nordöstlich der Stadt ein. Fünf Menschen sterben, darunter ein einflussreicher kurdischer Geschäftsmann und seine elf Monate alte Tochter. Und diesmal sind die Geschosse nicht von schiitisch-irakischen Milizen abgefeuert worden, sondern von ihren Hintermännern – den iranischen Revolutionsgarden. Es ist ein Racheakt und eine weitere regionale Eskalation vor dem Hintergrund des Krieges zwischen Israel und der Hamas.

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Das Hamas-Massaker am 7. Oktober und der Ausbruch des neuen Gaza-Krieges wirkt sich auch auf andere Länder in der Region aus. Das Mullah-Regime in Teheran lässt die Muskeln spielen und nutzt dafür die von ihm finanzierte anti-westliche und anti-israelische „Achse des Widerstands“. An der israelisch-libanesischen Grenzen liefern sich die schiitisch-islamistische Hisbollah und die israelischen Streitkräfte täglich Scharmützel. Die Huthi-Rebellen im Jemen attackieren immer wieder Schiffe im Roten Meer. In Syrien und im Irak führen schiitische Extremisten, die im „Islamischen Widerstand“ zusammengeschlossen sind, Dutzende Angriffe auf US-amerikanische Militäreinrichtungen durch.

Für die Mullahs läuft alles nach Plan

Ende Dezember werden bei einer dieser Attacken auf einen Luftwaffenstützpunkt bei Erbil drei US-Soldaten verletzt, einer von ihnen so schwer, dass er ausgeflogen werden muss. Die USA greifen ihrerseits Stützpunkte der Milizen an. Am 4. Januar töten sie mit einem Drohnenangriff in Bagdad einen Kommandeur der Harakat al Nudschaba. Die irakische Regierung fordert daraufhin den Abzug sämtlicher ausländischer Truppen aus dem Land.

Fünf Menschen starben bei dem Angriff, darunter ein einflussreicher kurdischer Geschäftsmann und seine elf Monate alte Tochter.
Fünf Menschen starben bei dem Angriff, darunter ein einflussreicher kurdischer Geschäftsmann und seine elf Monate alte Tochter. © picture alliance / Anadolu | Karzan Mohammad Othman

Aus der Sicht der iranischen Mullahs läuft alles nach Plan. Sie bauen ihren Einfluss in der Region immer weiter aus. Insbesondere der Irak, das Land, in das die USA vor mehr als zwei Jahrzehnten einmarschierten, hat sich zu einem Vasallenstaat des Iran entwickelt. In der Regierung in Bagdad sitzen irantreue schiitische Politiker, bei den jüngsten Provinz-Wahlen im Dezember setzten sich proiranische Kräfte durch. Ein Großteil der irakischen Öleinnahmen fließt ins Nachbarland. Über den Irak beliefert der Iran die mit ihm verbündeten Milizen in Syrien und die Hisbollah im Libanon mit Waffen. Für Israel und seine Schutzmacht ist es ein untragbarer Zustand.

Ein Großteil der US-Soldaten ist im Nordirak stationiert

Die USA sind noch immer mit rund 2500 Soldaten im Irak präsent. Offiziell, um nach dem Ende des Terrorkalifats des sogenannten Islamischen Staates die verbliebenen sunnitischen Extremisten zu bekämpfen, die noch immer in Teilen des Landes ihr Unwesen treiben. Tatsächlich geht es Washington um die Eindämmung des iranischen Einflusses. Ein Großteil der US-Soldaten ist im Nordirak stationiert. Auf die autonome Region Kurdistan hat Teheran kaum Zugriff, die kurdische Regierung in Erbil liegt immer wieder im Streit mit Bagdad – und ist nicht von ungefähr immer wieder Ziel von Attacken proiranischer Milizen oder der iranischen Revolutionsgarden.

Jenseits der Grenzen der kurdischen Autonomieregion sind an den Checkpoints der irakischen Armee oder der schiitischen Milizen die Kräfteverhältnisse im Irak deutlich zu sehen. An allen sind Bilder von Qasem Soleimani zu sehen, dem hochrangigen Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden, der vor fast genau vier Jahren durch einen US-amerikanischen Drohnenangriff in Bagdad getötet wurde. Kurz nach seiner Ermordung beschoss der Iran aus Vergeltung US-Militäreinrichtungen nahe Erbil.

Ebrahim Raisi, der iranische Präsident, bei der Vorstellung einer neuen Rakete.
Ebrahim Raisi, der iranische Präsident, bei der Vorstellung einer neuen Rakete. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Auch für den Angriff Montagnacht führt Teheran als Motiv Vergeltung an, konkret: Für die Ermordung von Sajed-Rasi Mussawi, einem weiteren hochrangigen Revolutionsgarden-General, der am 26. Dezember 2023 in der syrischen Hauptstadt Damaskus durch einen vermutlich israelischen Drohnenangriff getötet wurde. Man habe das „Spionagehauptquartier“ Israels in der Region Kurdistan angegriffen, verkündeten die Revolutionsgarden laut der iranischen Nachrichtenagentur Irna nach dem Raketenangriff auf Erbil.

Die Menschen in Erbil haben sich an die Angriffe gewöhnt

Teheran behauptet seit geraumer Zeit, dass der israelische Geheimdienst Mossad in der kurdischen Autonomieregion operiere. Die Regionalregierung weist diesen Vorwurf stets als haltlos zurück, eine Untersuchungskommission des irakischen Parlaments hat ebenfalls keine Beweise für israelische Spionageaktivitäten in der Autonomieregion. Auch Gerüchte, der bei dem jüngsten Angriff getötete kurdische Geschäftsmann Peschraw Dizayee habe mit Israel oder dem Mossad zusammengearbeitet, entbehrten jeder Grundlage, heißt es aus kurdischen Sicherheitskreisen.

„Diese Attacken und Feindseligkeiten gegen die kurdische Region sind unbegründet und ungerechtfertigt“, sagt der kurdische Ministerpräsident Masrour Barzani am Tag nach den iranischen Raketenangriffen. Anders als die irakische Regierung wirbt er für einen Verbleib der internationalen Truppen – unter ihnen sind auch etwa fünfzig deutsche Soldaten – im Land. „Wir brauchen die internationale Kooperation und Unterstützung, um mehr Stabilität in den Irak und die gesamte Region zu bringen“, so Barzani.

Die Menschen in Erbil scheinen sich an die ständigen Angriffe gewöhnt zu haben. „So ist das hier, es macht eben immer wieder Bumm“, sagt Bashdar Ahmad Sofy, Mitarbeiter einer kurdischen Hilfsorganisation. Am Tag nach dem iranischen Angriff sind die Geschäfte und die Straßen in der kurdischen Regionalhauptstadt voll, als sei nichts geschehen. Vom Flughafen, der nach den Angriffen in der Nacht geschlossen worden war, heben am Dienstagmorgen bereits wieder Flugzeuge ab.

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