Berlin. Im Iran pfeifen immer mehr Frauen auf den Kopftuchzwang – obwohl das gefährlich ist. Ein brutaler Fall sorgt für einen neuen Aufschrei.

74 Peitschenhiebe. 74 Schläge auf die Schultern, den Rücken, die Hüften, die Beine. Roja Heschmati nahm lieber diese Tortur auf sich, als sich den Hidschab aufzwingen zu lassen, das Tuch, das Haare, Hals und Schultern bedeckt und nur das Gesicht frei lässt. Die junge Kurdin hatte sich immer wieder in den sozialen Medien mit offenen Haaren gezeigt und auch auf den Straßen Teherans. Im vergangenen Frühjahr nahm die Sittenpolizei sie schließlich fest, im Oktober wurde das Urteil – die Peitschenhiebe, dazu eine Geldstrafe – verkündet. „Es war wie in einer mittelalterlichen Folterkammer“, sagte sie am Wochenende nach der Vollstreckung. Seitdem wird die 33-Jährige als Heldin gefeiert – und hat gleichzeitig einen neuen Aufschrei ausgelöst. Denn sie zeigte ihren zerschundenen Rücken in den sozialen Medien, sie beschrieb den Raum, die Eisenfesseln, die Folterinstrumente. Und legte damit offen, wie brutal das Regime tatsächlich vorgeht gegen alle, die sich der Kopftuchpflicht widersetzen.

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„800 Hinrichtungen im letzten Jahr, willkürliche Festnahmen, massive Gewalt gegen Demonstrierende und systematische Verfolgung und von Folter von Andersdenkenden und Journalisten“ – so beschreibt die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) die Lage im Iran. Ob Sittenpolizei, Richter oder Vollstrecker: Die Menschen hinter dem Apparat fackelten nicht lange, wenn es darum gehe, das Gesetz, das auf Grundlage der Scharia beruht, umzusetzen, mehr noch: „Die Repression steigt ständig an“, fasst IGFM-Sprecher Valerio Krüger gegenüber dieser Redaktion die Lage zusammen.

Roja Heshmati hatte sich mit offenen Haare gezeigt und wurde dafür zu 74 Peitschenhieben verurteilt.
Roja Heshmati hatte sich mit offenen Haare gezeigt und wurde dafür zu 74 Peitschenhieben verurteilt. © x | x

Im Iran rutschen immer mehr Menschen in die Armut ab

Der Erfolg dieser Politik lässt allerdings auf sich warten: Obwohl das Hidschab-Gesetz inzwischen weiter verschärft wurde, obwohl der Druck auf die Mädchen und Frauen massiv gestiegen ist, ein Kopftuch zu tragen, ändert sich das Straßenbild Irans weiterhin in Gegenrichtung: Immer mehr Frauen sind mit Jeans, T-Shirt und offenen Haaren unterwegs. Dabei, sagt Shiva Rostami*, seien die Überwachungskameras überall. Die 71-Jährige hat als junge Frau schon gegen den Schah gekämpft. Als aber die Revolution in den Gottesstaat mündete, floh sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Nun kämpft sie von der Diaspora aus für Freiheit und ein Ende des Mullah-Regimes.

Im Herbst 2022 starb Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam. Sie wurde festgenommen, weil sie ihr Kopftuch nicht vorschriftsmäßig getragen haben soll. Ihr Tod löste landesweit schwere Proteste aus.
Im Herbst 2022 starb Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam. Sie wurde festgenommen, weil sie ihr Kopftuch nicht vorschriftsmäßig getragen haben soll. Ihr Tod löste landesweit schwere Proteste aus. © AFP/Getty Images | Getty Images

Noch reist Shiva Rostami regelmäßig in ihre alte Heimat, besucht Angehörige, demonstriert gemeinsam mit ihnen – immer auf die Gefahr hin, nicht mehr nach Deutschland ausreisen zu dürfen. Derzeit hält sie vom Ruhrgebiet aus tagtäglich Kontakt zu ihren Freunden und Verwandten in Teheran und Shiraz. Was sie von ihnen hört, fasst sie mit einem Satz zusammen: „Die Bevölkerung steht vor einer Explosion.“

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Dabei geht es längst nicht nur um Freiheitsrechte. Immer mehr Menschen rutschen in die Armut ab; laut einer Studie der EU leben 30 Prozent der Bevölkerung mittlerweile sogar in extremer Armut. 2017 waren es noch 15 Prozent. „Die Menschen haben keine Arbeit“, sagt Shiva Rostami. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit seit der Pandemie und dem Ausbruch der landesweiten Proteste im Herbst 2022 nach dem Tod von Jina Mahsa Amini hoch. Die junge Kurdin kam in Polizeigewahrsam zu Tode. Festgenommen wurde sie von der Sittenpolizei, weil sie angeblich ihr Kopftuch nicht richtig getragen hat. Viele Geschäfte, die Frauen ohne Hidschab bedienen, wurden seitdem geschlossen. Auch die Sanktionen gegen den Iran belasten natürlich die Wirtschaft. Hinzu kommt die massive Inflation: Innerhalb nur eines Jahres sind laut Daten des iranischen Statistikzentrums die Lebensmittelpreise um 80 Prozent gestiegen. Die Folge: „Fleisch können sich die Menschen, die ich kenne, nur einmal im Monat leisten“, sagt Rostami.

„Man hat keine Luft, kein Essen, das Wasser ist von Chemikalien und Müll verseucht“

In Teheran gehört individuelles Styling dazu.
In Teheran gehört individuelles Styling dazu. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Rouzbeh Fouladi

Und dann sei da noch die Umweltverschmutzung. Der Smog sei oft so stark, dass Schulen, Büros, Geschäfte und Banken geschlossen würden. „Man hat keine Luft, kein Essen, das Wasser ist von Krankenhauschemikalien und Müll verseucht“, fasst Rostami die Berichte ihrer Angehörigen zusammen. Sie spricht aus, was offenbar viele Menschen im Iran denken: Auch die Korruption sei ein Problem, an dem irgendwann das Mullah-Regime zerbrechen werde: „Die Leute, die den Iran regieren, die machen nur ihre eigene Tasche voll, damit sie sich ins Ausland absetzen können. Die wissen, dass sie nicht bleiben werden.“

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Außer ihr Leben, sagt Rostami, sei den Menschen kaum noch etwas geblieben. Und auch das verliere an Wert, wenn es keine Perspektive gebe. Das ist wohl eine Erklärung für den Mut der vielen Frauen, die nicht davor zurückschrecken, sich mit dem brutalen Mullah-Regime anzulegen: Frauen ohne Kopftuch riskieren, dass ihr Auto beschlagnahmt wird. Ihnen wird die Fahrt im öffentlichen Nahverkehr verweigert, sie verlieren ihre Jobs. Shiva Rostami kennt Berichte, wonach die Sicherheitskräfte zu den Frauen nach Hause gingen. „Sie nehmen die Kinder mit oder die Frauen“, sagt sie. Es komme vor, dass später Frauen tot aufgefunden würden, etwa im Meer ertrunken. „Solche Berichte werden nicht offiziell veröffentlicht“, sagt Rostami.

Wenn die Mullahs Maryam festnehmen? „Dann wird meine Tochter stolz auf mich sein.“

Die Gefahr, inhaftiert und misshandelt zu werden, sei allgegenwärtig, berichtet auch Elham, eine 25-jährige Studentin aus Teheran, über den Kurznachrichtendienst Telegram. Auch sie wurde demnach von Einsatzkräften geschlagen und für einige Tage inhaftiert, nachdem sie an Straßenprotesten teilgenommen hatte. „Mittlerweile geht es nicht mehr nur darum, dass wir diese Kopftuchpflicht nicht ertragen wollen“, sagt sie. Es gehe auch um so viele „Schwestern und Brüder“, die bei den Protesten ihr Leben verloren haben. „Für mich ist Aufgeben Verrat denen gegenüber.“

Lockerer Alltag, doch die Gefahr lauert: Junge Iraner bei einem Food-Festival in der Stadt Rasht.
Lockerer Alltag, doch die Gefahr lauert: Junge Iraner bei einem Food-Festival in der Stadt Rasht. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Rouzbeh Fouladi

Auch Maryam* hat das Kopftuch abgelegt. „Einmal hat die Polizei unser Auto sichergestellt, weil ich kein Kopftuch trug. Meine 9-jährige Tochter konnte nicht verstehen, warum wir mitten im Nirgendwo stehen geblieben sind.“ Natürlich sei die Gefahr groß. Aber das sei kein Grund aufzuhören. Auch die Sorge um ihr Kind und ihren Job als Englischlehrerin an einer Sprachschule könne sie nicht aufhalten. „Mein Kind wird auf eine Mutter, die sich für Freiheit aller Frauen einsetzt, stolz sein“, sagt sie. Das möge klischeehaft klingen. „Aber davon bin ich überzeugt.“ *Namen geändert

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